Civil War

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Forumseintrag zu „Civil War“ von Andretoteles

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Andretoteles (18.04.2024 16:08) Bewertung
Journalismus als Tanz auf dem Gewehrlauf
Exklusiv für Uncut
Die Gesellschaft gespalten, Donald Trump erneut vor der Tür, Wahlen am nahen Horizont. Selten gab es eine passendere Gelegenheit eines dystopischen Films über Bürgerkriege in den USA als 2024. Wer sich aber von „Civil War“ eine Michael-Bay-Materialschlacht erwartet, wird entweder enttäuscht oder eines Besseren belehrt. Mehr Road-Movie und Coming-of-Age-Story richtet sich der Blick auf ein unterrepräsentiertes Berufsbild: Kriegsjournalismus und Kriegsfotografie. Was kann uns das neue Werk des avantgardistischen Regisseurs Alex Garland über den Zielkonflikt aus psychologischer Überforderung, Notwendigkeit unabhängiger Medien und moralischen Widerständen verraten?

Lee und Joel (solide Leistungen von Kirsten Dunst und Wagner Moura, bekannt als Pablo Escobar aus „Narcos“) sind Kriegsreporter:innen im fiktiv-zukünftigen US-amerikanischen Bürgerkrieg. Mit dem Ziel, noch ein letztes Interview mit dem Präsidenten zu führen, bevor dieser von den Western Forces attackiert wird, brechen sie auf nach Washington D.C. Mit an Bord der Medienveteran Sammy (Stephen Henderson spielt auch Thufir Hawat in „Dune“) und die junge Jessie (starke Darbietung: Cailee Spaeny), die anfangs naiv agierend ihre Berufung erst finden muss. Ihre Reise führt das Quartett zu absurden und gefährlichen Situationen, die alte Traumata aufreißen und neue Angst erzeugen – bis zum bitteren Ende in D.C.

Schon früh als Autor positiv aufgefallen („28 Days later“), gelang dem britischen Regisseur Alex Garland 2015 mit „Ex Machina“ ein kleines Wunderwerk, das sowohl von Publikum als auch von Kritik durchweg gefeiert wurde. In den letzten Jahren wurde es still um ihn, seine Projekte zündeten nicht im gleichen Ausmaß, jetzt ist er zurück mit seinem vierten Spielfilm und veranstaltet eine militärische Achterbahnfahrt. Bis zur Filmmitte funktioniert der Streifen durchwachsen, die Charakterzeichnung wirkt eindimensional, trivial sadistische Söldner tauchen auf, die Dialoge sind beiläufig. Speziell Jessies Entwicklung verläuft unglaubwürdig zu schnell. Erst im letzten Filmdrittel erklingt das Crescendo, steigen Puls und Atemfrequenz, weiten sich lauer Wind zu einem Orkan und Einzelpatronen zu einem Kugelhagel in einem rasanten, unerwarteten, höchstintensiven Ende. Mit beängstigendem Realismus dokumentiert die Reportage des Krieges Opfer, insbesondere Jesse Plemons‘ Kurzauftritt ist ein Schlag in die Magengrube. Mit Klarheit und ohne Pathos inszeniert Garland den amerikanischen Albtraum, die Kameraarbeit erfüllt hohe Standards.

Von besonderer Wichtigkeit: Sound und Soundtrack. Komplette Stille und ohrenbetäubender Krach alternieren. Bei Panikattacken, bei schlaflosen Nächten, bei Melancholie nach Angriffen dominieren die Erinnerungen der Protagonistinnen in dichterischer Ruhe. Ganz im Gegensatz der Lärm der Hülsen und die Schüsse aus den Waffen, die sich stets abwechseln mit den Schüssen aus den Kameras, deren Fotos wie zeitlose Gedenktafeln in den Film geschnitten sind. Fast schon kubrick-esk kreuzt der Soundtrack die Situationen. Psychedelischer Pop, treibender Funk und später gar Country-Riffs konterkarieren das Gesehene, lassen es phasenweise satirisch erscheinen. Machen „Civil War“ zu einem durch und durch amerikanischen Produkt.

Nicht nur in diesem musikalischen Durcheinander, im lauen Spannungsaufbau oder der holprigen Charakterentwicklung findet der Film keinen kohärenten roten Faden. Politische Hintergründe, Ursachen des Krieges wären interessant, aber auch eine gänzlich andere Intention, der Vorwurf nicht haltbar. Was will uns der Film sonst erzählen? Moral im Journalismus. Wann müssen Medien eingreifen? Welche Macht haben sie, welche Verantwortung? Das Spannungsfeld aus unabhängiger Aufklärung und Meinungsmache könnte bespielt werden. Welche moralischen Maßstäbe müssen gelten? Oder die innere Perspektive: wie umgehen mit dem Schrecken, wohin mit dem Trauma? Peripher streifen Bilder und Dialoge diese Themen, auserzählt und fokussiert behandelt werden sie kaum, der Film pendelt zwischen den Sphären, lässt aber zu viel offen. Oder kann all das positiv ausgelegt werden, wenn das Werk sich der Parteinahme enthält und Neutralität predigt? Interpretationsspielraum. Ohne Politik und Psychogramm bleibt das rohe Abziehbild des Krieges auch eine Botschaft.

Fazit: Verstörende Aufnahmen, poetische Momente und entsetzliche Bilder prägen diese apokalyptische Welt eines zerstörten Amerika mitten im „Civil War“. Auteur Alex Garland zeigt Kriegsfotografie als Tanz auf dem Gewehrlauf, als Leben im Auge des Orkans in Form dieses hyperrealistischen Road-Movies. Trotz beklemmender Szenen, spektakulärem Finale, kinematografischer Brillanz fehlt „Civil War“ die kohärente Bindung im Subtext, ist dennoch eine Herausforderung und eine präzise Warnung an uns alle, die Gräben nicht weiter auszuhöhlen. Von Ukraine bis Nahost, die Kriege und deren Sinnlosigkeit häufen sich, noch ist die USA nicht direkt betroffen.
 
 

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