La chimera

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Forumseintrag zu „La chimera“ von UR_000

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UR_000 (03.01.2024 23:49) Bewertung
Melancholisch-mystische Grabräuber-Ballade
Alice Rohrwacher ist in der europäischen Filmlandschaft längst keine Unbekannte mehr. Ihr neuester Film „La Chimera“ ging 2023 in Cannes ins Rennen um die Goldene Palme, in illustrer Gesellschaft. Ihr Werk ist Ballade, Abenteurergeschichte und Märchen in einem. „La Chimera“ erzählt von Arthur, der mit einer Gabe gesegnet ist: Er spürt, wenn an einem Ort antike Schätze vergraben sind. Es könnte auch ein Fluch sein …

Arthur (Josh O’Connor), ein Engländer, den es nach Italien verschlagen hat, ist gerade aus dem Gefängnis entlassen worden. Kaum angekommen, wird er von seinen Freunden für die nächste Tour angeworben. Es gibt noch genügend Gräber in der Gegend, in denen antike Schätze warten. Der geheimnisvolle Spartaco zahlt zu gut für die Fundstücke, um sich diese Gelegenheit entgehen zu lassen.

„La Chimera“ ist aber weit mehr als eine schnöde Abenteurerstory in malerischer Umgebung. Denn Arthur ist kein Indiana Jones, mit dem er von so manchen Medien (und vermutlich Marketing-Expert*innen) verglichen wird. Seine Beutezüge sind weit weniger spektakulär, wenn auch nicht gänzlich ungefährlich. Er unterscheidet sich zudem von dieser ikonischen Figur, weil er eigentlich von einem anderen Schatz besessen ist: der schönen Beniamina. Seine Suche nach ihr ist ein unmögliches Unterfangen, ein wohl unerfüllbarer Traum, Arthurs große Liebe wird nicht wiederkehren, sie ist tot.

Arthur scheint sich allerdings nicht beirren zu lassen. Genauso wie Beniaminas Mutter Flora, die stur an der Rückkehr der Tochter festhält, ihr altes, verfallendes Haus nicht verlassen will. Doch dann tritt Italia, die bei Flora Gesangsstunden nimmt, aber eigentlich mehr Haushaltshilfe und ‚Dienerin‘ ist, in Arthurs Leben. Eine Chance, die ewige Suche aufzugeben. Sich nicht mehr davon treiben zu lassen. Italia geht es auch um die Suche nach den etruskischen Gegenständen. Die Grabbeigaben sind nicht für Menschenaugen gedacht, sollten ihre mystischen Ort nicht verlassen. Aber kann Arthur den Verlockungen der physischen wie metaphorischen Schätze widerstehen?

In flimmernden Bildern im Retro-Ton führt Rohrwacher in die 1980er, zeigt die Grabräuberbande rund um Arthur und deren Konkurrenz als liebenswert-schrullige Figuren, die allesamt Spartacos Geld lockt. Ein wenig klischeehaft und oberflächlich, die Nebenfiguren bekommen kaum Tiefe, beziehungsweise wird ihre Geschichte nicht erzählt. Für das viele Geld arbeiten sie alle hart, allerdings nicht in einem respektablen Job. Bei Nacht wird gegraben, mit Taschenlampe und Kerzenschein werden die wertvollen Fundstücke ins Licht gerückt. Immer in Angst, dass die Carabinieri sie dabei ertappen. Bei Tageslicht, aber hinter einer cleveren Fassade, können die Schätze verhökert werden.

Ein humorvolles Element der Erzählung ist die musikalische Untermalung. Arthur wird nicht wie Indiana Jones in populären Serien („The Big Bang Theory“) besungen. Rohrwacher lässt ihn aber immerhin innerhalb der Geschichte, vielleicht auch in einer Zwischenwelt, zum Helden von Balladen werden. So erfährt man mehr über sein Schicksal als man sieht. Das soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Ein weiteres originelles Element ist der rote Faden an Beniaminas Kleid, der immer wieder auftaucht. Ein Symbol, ein Anker, ein Wegweiser; vielleicht. Gleichzeitig ist es für literarisch Versierte ein Meta-Kommentar. Denn „La Chimera“ hat einen roten Faden, es ist die Geschichte eines Suchenden. (Und einiges mehr.)

Das Hereinbrechen von Geschichte, der Verweis auf das Leben der Etrusker, wann immer eines der Gräber geöffnet und die Beigaben entdeckt werden, unterfüttert die Gegenwart von Arthur und den Grabräubern. Ein Zusammenspiel entsteht, vielleicht ein Herausfallen aus der Zeit. Das Mystische eines jahrhundertealten Grabes wird spürbar. Gewollt natürlich, stilisiert, künstlich. Prätentiös könnte man fast sagen.

Mystisch märchenhaft, aber auch humorvoll kommt Rohrwachers „La Chimera“ daher. Die Eigenheiten der Grabräuberbande etwa und die cleveren Einfälle aller Beteiligten, um die Konkurrenz auszustechen, sorgen für Lacher. Da bietet das Drehbuch schon einige gute Einfälle. Das ist nicht unwichtig. Der Film entspinnt Arthurs Geschichte in gemäßigtem Tempo, etwas traumtänzelnd vielleicht, ähnlich wie der Protagonist selbst. Rohrwacher greift den Trend zur Überlänge auf. Trotz einiger skurriler Zeitrafferszenen ist „La Chimera“ entschleunigt. Sehr entschleunigt. Die Wiederholung von Themen und Szenen bringt ebenso wenig Schwung. Irgendwann schauen die Gräber halt einfach gleich aus. Nicht mehr allzu spannend, wenn man kein Geschichtsnerd ist und sich mit den Funden auskennt. Wenn man sich keine waghalsigen Stunts und viel Action – wie beim fürs Marketing zitierten Vorbild Indiana Jones – erwartet, sollte der Film trotzdem einigermaßen unterhalten.

Das allzu offensichtlich eingesetzte Abgleiten ins Mystische, in die Welt der Geister, wirkt manchmal etwas zu plakativ und aufdringlich, eher unfreiwillig komisch. Stichwort: Arthur und seine vibrierende Wünschelrute. Oder das sture Festhalten an Beniamina, das unverständlich bleibt. Ein deutlicher Wermutstropfen in einem ansonsten gut funktionierenden Abenteuer-Märchen der anderen Art.
 
 

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