Nebel im August

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Forumseintrag zu „Nebel im August“ von r2pi

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r2pi (03.10.2016 21:18) Bewertung
himbeersaft und "gnadentod"
ernst lossa ist kein idiot, nicht mal ein krüppel. als jenischer (kategorie: zigeuner und hausierer) marginalisiert und nach einer kindheit in erziehungsheimen überdies als "unerziehbarer" rebell gebrandmarkt, wird er in eine psychiatrische heilanstalt eingewiesen. das euthanasieprogramm T4 ist zwar laut führererlass offiziell beendet, das "erlösen" geht in der anstalt aber munter weiter. und lossa kriegt bald mit, was es mit dem häferl himbeersaft auf sich hat.

das anstaltspersonal: moralisch eindeutig positioniert die mitfühlende ordensschwester (fritzi haberlandt) und der eiskalt-böse todesengel (henriette confurius), zwiespältig die figur des direktors dr. veithausen (sebastian koch), angelehnt an den leiter der heil- und pflegeanstalt kaufbeuren/irsee, valentin faltlhauser. der begann zwar als reformpsychiater und gegner der euthanasie, wir lernen ihn nur mehr als charmanten, scheinbar mitleidigen "erlöser" und erfinder der "e-kost" ("entzugskost" vulgo "euthanasiekost") und persönlich involvierten mörder kennen. veithausens motivation – desinteresse der angehörigen? gewandelte überzeugungen? karriere? – bleibt, leider, ebenso opak wie die der anderen mitläufer. und ernst lossa? ein rebell, gewiss, doch liebenswürdig und hilfsbereit, dessen schicksal umso betroffener machen wird, als er nicht einmal zu den idioten, krüppeln und unheilbar kranken zählt.

fazit: ein handwerklich gut gemachter beitrag zum thema euthanasie im nationalsozialismus, mit soliden bis beeindruckenden schauspielleistungen (besonders hervorzuheben karl markovics in einer kurzen sequenz als ernsts vater, das leid und die agonie aller drangsalierten und geknechteten in seinem mienenspiel; david bennent als irrer insasse; und nicht zuletzt die überzeugende leistung des protagonisten ivo pietzker). dass die spannungskurve dennoch relativ flach bleibt (und der film allen, die sich bereits mit dem dritten reich ausführlich auseinandergesetzt haben, keine neuen erkenntnisse bringt), mag der gleichnamigen literarischen vorlage von robert domes geschuldet sein – für den schulunterricht ist er alle mal ein guter ausgangspunkt für weiter führende diskussionen.

ein nachsatz noch: krüppel und idioten – pardon: behinderte – haben heutzutage ihre eigenen olympischen spiele, der "krieg gegen das unterste drittel" der bevölkerung ist aber damit keineswegs zu ende. ich hoffe, dass weiter führende diskussionen nicht auf die geschichtestunde beschränkt bleiben und die zugrunde liegende ideologie nicht als ein düsteres kapitel deutscher vergangenheit abgetan wird.

prädikat: "besonders wertvoll" der deutschen film- und medienbewertung (fbw)
 
 

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