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77.5% Bewertung
  • Bewertung

    „Würdest du es nicht von seinem Leid befreien wollen?“

    Exklusiv für Uncut
    Der Zweite Weltkrieg. Kaum eine andere Thematik wurde im Laufe der Geschichte des Kinos so häufig behandelt, wie dieses. Insbesondere der Deutsche Film hat, um zu zeigen, dass man vermeintlich aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat, in den letzten Jahren dieses Thema so häufig aufgegriffen, wie kein anderes. Dieses Phänomen führte leider jedoch auch zu einigen forciert wirkenden Filmprojekten, die eher wie scheinheilige Cashgrabs, als wie glaubwürdige Nacherzählungen jenes dunklen Geschichtskapitels wirkten. Glücklicherweise trifft dies auf das Drama „Nebel im August“ basierend auf dem gleichnamigen Roman von Robert Domes nicht, denn hier gelang Regisseur Kai Wessel ein durchwegs authentisches und schonungsloses Porträt der Gräueltaten des NS-Regime, welches an kaum einer Stelle in Kitsch abdriftete. Nach einer wahren Begebenheit erzählt Wessel hier die Geschichte des 13-jährigen Ernst Lossa (Ivo Pietzcker), der aufgrund seines rebellischen Verhaltens viel Zeit in Heimen verbrachte. Als er eines Tages in einem jener Heime als „unerziehbar“ abgestempelt wird, landet er in einer von Dr. Walter Veithausen (Sebastian Koch) geleiteten Nervenanstalt. Schon bald bemerkt er, dass dort Kinder, die mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen kämpfen zu haben, getötet werden. Deswegen fasst er den Plan diese Grausamkeiten zu verhindern und anschließend mit seiner ersten großen Liebe Nandl (Jule Hermann) zu flüchten. Was mir beim Schauen des Films besonders positiv aufgefallen ist, sind die ambivalenten Portraits der einzelnen Charaktere. Im Gegensatz zu vielen anderen Filmen, die sich mit jener Materie auseinandersetzen, gibt es hier keine karikaturartige Einteilung zwischen Gut und Böse. Diese Schwarz-Weiß-Malerei wird gekonnt vermieden, in dem man versuchte jedem der Charaktere, mögen deren Handlungen noch so fragwürdig sein, ein Motiv zu geben und somit deren humane Seite offenzulegen. Gar der Figur der Krankenschwester Edith Kiefer (Henriette Confurius), welche den Kindern mittels Himbeersaft das zum Tod führende Mittel verabreicht, wird in einer Sequenz eine humane Seite verliehen. Als sie merkt, dass Ernst ihr versucht ins Handwerk zu pfuschen, erzählt sie ihm eine Anekdote aus ihrer Kindheit: Als sie noch ein kleines Mädchen war, fand sie im Wald ein kleines Rehkitz. Sie wollte es eigentlich mit nach Hause nehmen und gesund pflegen. Ihr Vater jedoch hat es erschossen, um den Leidensweg des Rehs zu verkürzen. Um das Ganze als Sinnbild für die psychisch und physisch kranken Kinder zu verwenden, fragt sie Ernst: „Würdest du es nicht von seinem Leid befreien wollen?“ Obwohl ich diese Überzeugung keineswegs teile, kam dieser Moment so authentisch und ehrlich rüber, dass ich mindestens die Beweggründe ihrer Handlungen mehr zu verstehen wusste. Ein weiterer Punkt, der zur Authentizität des Films beiträgt sind die darstellerischen Leistungen. Besonders hervorzuheben wäre hierbei Ivo Pietzcker, dem es trotz seines recht jungen Alters gelang, dem Protagonisten Ernst eine nachdenkliche, rebellische Seite zu geben, ohne dabei dessen kindliche Ader außen vor zu lassen. Zudem schafft es der Film von der ersten Minute an den Zuschauer in die kalte Stimmung hineinzuziehen. Diese kalte und gleichzeitig hypnotische Stimmung wird von einer sehr grau gehaltenen Farbgebung und authentisch gestalteten Sets hervorgehoben.

    Mein einziges Problem war ein eine für meinen Geschmack leicht pathetische Schlusssequenz, sowie die Tatsache, dass der Film weder auf ästhetischer noch narrativer Ebene wirklich etwas Neues wagt. Nichtsdestotrotz ist „Nebel im August“ ein eindrucksvolles 2. Weltkriegs-Drama, welches auf dramaturgischer Ebene vor allem durch die authentischen Charakterporträts und den tollen darstellerischen Leistungen überzeugt.
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    18.10.2016
    00:59 Uhr
  • Bewertung

    himbeersaft und "gnadentod"

    ernst lossa ist kein idiot, nicht mal ein krüppel. als jenischer (kategorie: zigeuner und hausierer) marginalisiert und nach einer kindheit in erziehungsheimen überdies als "unerziehbarer" rebell gebrandmarkt, wird er in eine psychiatrische heilanstalt eingewiesen. das euthanasieprogramm T4 ist zwar laut führererlass offiziell beendet, das "erlösen" geht in der anstalt aber munter weiter. und lossa kriegt bald mit, was es mit dem häferl himbeersaft auf sich hat.

    das anstaltspersonal: moralisch eindeutig positioniert die mitfühlende ordensschwester (fritzi haberlandt) und der eiskalt-böse todesengel (henriette confurius), zwiespältig die figur des direktors dr. veithausen (sebastian koch), angelehnt an den leiter der heil- und pflegeanstalt kaufbeuren/irsee, valentin faltlhauser. der begann zwar als reformpsychiater und gegner der euthanasie, wir lernen ihn nur mehr als charmanten, scheinbar mitleidigen "erlöser" und erfinder der "e-kost" ("entzugskost" vulgo "euthanasiekost") und persönlich involvierten mörder kennen. veithausens motivation – desinteresse der angehörigen? gewandelte überzeugungen? karriere? – bleibt, leider, ebenso opak wie die der anderen mitläufer. und ernst lossa? ein rebell, gewiss, doch liebenswürdig und hilfsbereit, dessen schicksal umso betroffener machen wird, als er nicht einmal zu den idioten, krüppeln und unheilbar kranken zählt.

    fazit: ein handwerklich gut gemachter beitrag zum thema euthanasie im nationalsozialismus, mit soliden bis beeindruckenden schauspielleistungen (besonders hervorzuheben karl markovics in einer kurzen sequenz als ernsts vater, das leid und die agonie aller drangsalierten und geknechteten in seinem mienenspiel; david bennent als irrer insasse; und nicht zuletzt die überzeugende leistung des protagonisten ivo pietzker). dass die spannungskurve dennoch relativ flach bleibt (und der film allen, die sich bereits mit dem dritten reich ausführlich auseinandergesetzt haben, keine neuen erkenntnisse bringt), mag der gleichnamigen literarischen vorlage von robert domes geschuldet sein – für den schulunterricht ist er alle mal ein guter ausgangspunkt für weiter führende diskussionen.

    ein nachsatz noch: krüppel und idioten – pardon: behinderte – haben heutzutage ihre eigenen olympischen spiele, der "krieg gegen das unterste drittel" der bevölkerung ist aber damit keineswegs zu ende. ich hoffe, dass weiter führende diskussionen nicht auf die geschichtestunde beschränkt bleiben und die zugrunde liegende ideologie nicht als ein düsteres kapitel deutscher vergangenheit abgetan wird.

    prädikat: "besonders wertvoll" der deutschen film- und medienbewertung (fbw)
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    03.10.2016
    21:18 Uhr