Filmkritik zu Bird

Bilder: Filmverleih Fotos: Filmverleih
  • Bewertung

    Britisches Sozialdrama und Coming-of-Age vereint

    Exklusiv für Uncut aus Cannes 2024
    Nachdem „Wild Diamond“ das Coming-of-Age-Genre auf dem Filmfestival in Cannes 2024 einleitete, geht es mit „Bird“ direkt weiter. Erneut werden kindliche und jugendliche Ängste sowie die Fragilität der Welt am Puls der Zeit festgehalten. Dabei ist „Bird“ deutlich experimenteller und einen Tick surrealer. Narrativ liegt der Fokus auf dem verelenden Sozialmilieu in Großbritannien.

    Darum geht's: Bailey (Nykiya Adams) ist zwölf Jahre alt und lebt mit ihrem Vater Bug (Barry Keoghan) in einer heruntergekommenen Gegend. Nachdem sie erfährt, dass ihr Vater seine dreimonatige neue Liebschaft Peyton (Jasmine Jobson) heiraten will, steht nicht nur ein neuer Lebensabschnitt für alle an, sondern ebenso viele Zerwürfnisse, deren Wurzeln in der Vergangenheit liegen.

    Eines Tages trifft Bailey auf den mysteriösen Bird (Franz Rogowski), der ihr als Einziger Kraft und Aufmerksamkeit schenkt. Sie nähert sich ihm langsam an und merkt, dass auch er Sorgen mit sich herumträgt. Beide wachsen aneinander, bis er eines Tages sein Geheimnis lüftet.

    Magisches Kino in verwahrloster Umgebung

    Bailey wacht auf, erneut ist die Welt die gleiche wie am Vortag und doch handelt es sich um einen besonderen Tag, als ihr Vater eine große Ankündigung mitteilt. Die geplante Hochzeit wirft sie aus der Bahn, stets begleitet von einer aufgebrachten und wackeligen Kamera. Vor dem Haus springt der soziale Kontext unmittelbar ins Auge, womit die ganze Situation eingerahmt wird: Bröckelnde Häuser, alles voller Graffiti und Menschen, die schon von Weitem den Eindruck machen, dass man sie besser nicht ansprechen sollte, verstärken Baileys Impulsivität deutlich. Es liegt auch daran, dass kein Ort existiert, an dem sie zur Ruhe kommen kann, um die anstehende Veränderung adäquat zu verarbeiten. Dass es nicht lange dauert, bis der rätselhafte Bird eingeführt wird, lässt nicht viel Raum für Rätselraten zu, was fortan folgen wird. Die Erwartungen, die sich zwischen Themen wie der ersten Liebe und jugendlichen Herausforderungen einpegeln, fassen die Coming-of-Age-Charakteristik bestens zusammen.

    All das bewahrheitet sich, da Konflikte zwischen Eltern und Kindern und eine generelle Hilfslosigkeit aller den Ton des Films bestimmen. Die Optik erinnert dabei an das Sozialdrama-Kino Ken Loachs, der zuletzt mit „The Old Oak“ ebenfalls die gesellschaftlichen Spannungen unter die Lupe nahm. Auch Regisseurin Andrea Arnold nimmt sich einer maximal authentischen Darstellung an und gibt erneut ihren Schauspielern völlige Kontrolle, wie es schon in früheren Werken der Fall war. Es erzeugt nicht nur einen hohen Grad an Authentizität, womit die Stimmung zwischen Hilflosigkeit und Wut gefühlvoll festgehalten wird, sondern auch ein Gefühl, selbst Teil dieser Welt zu sein. Letzte Woche, diese Woche oder kommende Woche könnte sich die Geschichte aus „Bird“ zutragen, womit eine gelungene Zeitlosigkeit geschaffen wird. Dies trifft jedoch nur auf die ersten zwei Drittel des Films zu, da es gegen Ende hin eine überraschende Wendung gibt. Ich möchte an dieser Stelle nicht zu viel verraten.

    Nur so viel sei gesagt: Zu den Coming-of-Age- und Sozialdrama-Elementen gesellt sich Magischer Realismus als dritte Komponente hinzu. All das verwebt Arnold in passender Optik, verbunden mit einem offenen Ende. Narrativ kommen komplexe Themen wie Verantwortung, menschliche Entfaltung und die Zeichnung, wie Traumata entstehen, hinzu, die alles abrunden. Frei von Kritik ist „Bird“ jedoch nicht, da manche Figuren stellenweise zu wenig Zeit eingeräumt bekommen, um atmen und wachsen zu können. Kleinere Ecken und Kanten, die hinzukommen, sind verkraftbar, für das Urteil „sehenswert“ reicht es allemal. An die meisterhaften Coming-of-Age-Perlen der letzten Festivalfilme „Aftersun“ und „How to have sex“ reicht auch „Bird“ nicht heran.
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    (Michael Gasch)
    17.05.2024
    22:02 Uhr