Filmkritik zu Music

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  • Bewertung

    Ödipus reloaded und remixed

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Nebelschwaden schleichen über die Berge, es donnert, der Kinosaalboden vibriert. Das wird er noch mehrmals tun und obwohl spätestens beim dritten Mal klar sein sollte, dass das seinen Ursprung außerhalb des Kinos hat, kurvenschneidende Straßenbahnen, so hängt dennoch jedes Mal ein Fragezeichen von der Decke, weil dieses Beben sich dermaßen gut in den Film fügt. Es unterstreicht, wie aufgeladen jede Einstellung des Films ist. Unter der stillen Oberfläche brodelt es. Die wenigen beabsichtigten musikalischen Untermalungen ausgenommen, sind die einzigen Geräusche unerzwungene Naturklänge. Wenn der Wind Sand vor der Kameralinse vorbeiwehen lässt, gerade als sich Jon die Füße bandagiert, dann war das höchstwahrscheinlich ungeplant. Keine Regenmaschinen wie in Hollywood. Die Poesie des Zufalls, das Improv der Natur.
    Somit könnte das stürmische Blätterkonzert auf dem Weg zum Stadtkino fast als ein Prolog anerkannt werden. Dieser Prolog ist individuell und unwiederholbar und hat mich in das perfekte Mindset versetzt. Ein Blick in Ingeborg Bachmanns „Malina“ beim Warten im Kinofoyer hat dann noch eins draufgesetzt: „Ich kann meinen Vater nicht mehr ansehen, ich hänge mich an meine Mutter und fange zu schreien an, ja, es war das, es war es, es war Blutschande. [...] von Anfang an gar kein Ton in meiner Stimme [...] Mein Vater ist unberührbar.“ So viele Parallelen auf einer Buchseite.

    Mit ihrem neuesten Spielfim „Music“ widmet sich Angela Schanelec dem Ödipus-Mythos. Jon (vgl. Ödipus, Aliocha Schneider) wird in den griechischen Bergen unter Donner geboren. Kurz darauf wird er ausgesetzt. Im nächsten Moment ist er bereits erwachsen und tötet seinen Vater. Schanelecs Erzählweise ist elliptisch, sie vertraut auf die Familiarität mit dem Stoff. Im Gefängnis trifft Jon auf die Wärterin Iro (vgl. Iokaste, Agathe Bonitzer), die beiden verlieben sich und bekommen ein Kind. Das Familienglück währt, wie zu erwarten, nicht lange, endet hiermit allerdings nicht, es wird wiedergefunden. Das lassen die Figuren nicht mehr mit sich machen, der antike Stoff wird gegenwärtig. Jons Augenlicht schwindet, dafür bekommt er eine Stimme. Die Geschichte übersiedelt von Griechenland nach Berlin.

    Nach der Premiere auf der Berlinale und einem Silbernen Bären für das Drehbuch, läuft der Film nun auf der Viennale und in wenigen Wochen auch regulär in ausgewählten Kinos.

    Schanelecs Charaktere schweigen mit den Lippen und sprechen mit Händen und Füßen.
    In manchen Einstellungen sehen wir nur zwei paar Füße, die einander anschauen und konversieren. In einer anderen, an „Ghost“ erinnernden Szene, halten Jon und Iro miteinander, ineinander ihre Hände unter den laufenden Wasserhahn. Beides erste Annäherungen einer fatal endenden Liebesgeschichte. Angenähert, wie in alten Erzählungen, wird sich auch an spätere Wendungen. Wenn Jons Vater nach einem Unfall bewusstlos am Boden liegt, ihm die Brille abgenommen wird und er erwacht, dann kann das als Gegenstück für Jons spätere Erblindung begriffen werden. Kurz vor Iros Tod huscht wie symbolisch ein Salamander über ihren Fuß. Es wurde bestimmt bereits in irgendeiner Kritik festgehalten oder ist bei einem Nachgespräch unter Freunden gefallen oder in Stein gemeißelt oder auf Zehennägel gepinselt worden: Dieser Film wäre was für Quentin Tarantino, foot fetishist at large. Das Aussparen von Close-ups in wichtigen Momenten, ist wie ein Wahren des Gesichts für die Figur. Nach dem Mord an seinen Vater darf Jon sich in den Armen einer Freundin von der Kamera abwenden und ins Offene/Uns-Verborgene schreien.

    Auch wenn Mythen und Musikfilme meist eher das Emotionale hervorheben oder gar erhöhen, erzielt Schanelec ähnliches, in dem sie auf der Gegenspur fährt. Ihr rollt kein Reifen davon, kein Politiker wird von einem Auto erfasst. (Beides geschieht lediglich auf der Handlungsebene.) Die Herangehensweise glückt, was unter anderem an den wortkargen Figuren liegt, denen etwas Stoisches innewohnt. Wie my(s)thische Statuen. Sie machen keine unüberlegten Bewegungen, deren Mimik ist wie versteinert. In einer anfänglichen Sequenz scheint es sogar fast so als wäre ein Gesicht in einem Felsenkomplex verewigt. Solche Auswüchse sind der Kamera geschuldet, deren gemäldeartigen Bilder verleiten dazu alles als komponiert und beabsichtigt wahrzunehmen. Das kann so weit gehen, dass jedes Detail hinterfragt wird (Warum kein Kassenbeleg? Was hat es mit dem Tischtennisspiel der Gefängniswärterinnen auf sich? Wieso spielen sie anfangs zu dritt? Und dann nicht?). Irgendwie macht dieses Rätseln Spaß. Hier ist alles erlaubt, lass den Interpretationen freien Lauf. Immerhin gehört, wie es so oft heißt, der Film dem Publikum, sobald der Projektor läuft. Remember: Das sind keine Steine, die Schanelec in den Weg legt, das ist einfach ihr Ausdrucksweise. Heb sie auf und sei dankbar, dass nicht alle Regisseur*innen dein Wahrnehmungsfeld so sehr einzäunen, dass du nur das siehst und denkst was sie wollen, dass du tust. Schanelec sperrt dir eine Tür auf.
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    (Lennart-Sean Pietsch)
    22.10.2023
    12:46 Uhr
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