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    Katz und Maus und Katz und Katz

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Im großen Garten einer Villa sitzen Stiefmutter und -Sohn beisammen, enger als es üblich wäre. Er berührt unaufhörlich ihre Armbeuge, will ihr dort ein Tattoo stechen, meint, es wäre der perfekte Ort für eine elegante Frau. Sie fühlt sich geschmeichelt, ringt jedoch sichtlich mit ihrem Moralverständnis. Dieses Ringen verbalisiert sie, als sie ihm von ihrer Angst, die sie Vertigo nennt, erzählt. Für sie ist Vertigo nicht einfach ein Schwindel, sie verbindet mit ihr eine Angst vor der Lust zu Fallen. Eine Zerstörungslust. Zu zerstören hat Anne reichlich, wie es sich eben für einen Film dieses Genres gehört. Sie hat alles, was das Spiel des Lebens zu bieten hat. Mein Haus, mein Auto, mein Boot. Boot hat sie vielleicht keines, der Familienhund fehlt auch, aber sonst ist so ziemlich alles vorhanden für das trügerische Idyll. Anne arbeitet obendrein noch als Anwältin für Jugendliche. Gleich in der Eröffnungssequenz schildert ihr eine Klientin eine Erfahrung von sexuellem Missbrauch. Catherine Breillat zögert demnach nicht, uns aufs Glatteis zu führen. Dort werden wir auch für den Rest des Films bleiben. Unklar jedoch ist wie beabsichtigt diese moralische Gradwanderung ist. Sowohl Breillat als auch das Umfeld der zwei Figuren scheint von den Umständen dieser Affäre recht unbeeindruckt. So als hätten sie die Filmgeschichte im Hinterkopf, sie wissen von den vielen Malen als Aufdeckungen für emotionale Monologe oder dergleichen genutzt wurden und entscheiden sich dagegen, fühlen sich müde oder abgestumpft.

    Die Kamera hängt den Figuren förmlich an den Lippen und bleibt dort, während die Figuren einander an den Lippen hängen. Andere Filmemacher*innen wären mit der Andeutung zufrieden, Breillat allerdings nicht. Sie interessiert sich für das Intime. Momente, denen wir als Unbeteiligte normalerweise nicht beiwohnen würden, in denen die Emotionen nicht aus dem Gesicht geschrieben werden können. Das hat etwas extrem Unangenehmes, zu Teilen auch Komödiantisches. Annes Jugendgeschichte über ihre gerontophilen Gefühle für einen dann gen Erwartung doch nicht so alten Mann, die sie ihrem Ehemann im Bett erzählt. Das Schnaufen und Keuchen des Jünglings Théo beim Intimverkehr mit seiner Stiefmutter. Auch die Umstände wie es zu dem ersten Mal zwischen den beiden kommt, sind peinlich unsexy. So wie die meisten ihrer Interaktionen. Kein schützender Mantel wird über das Publikum gelegt, es wird uns keine rosarote Brille aufgesetzt. Stattdessen wird uns der Teppich unter den Füßen weggezogen. Sie sind peinlich und triebgesteuert. Es menschelt.

    Nirgends sommert es mehr oder besser als in französischen Filmen. Da ist „L’éte dernier“ keine Ausnahme, ganz im Gegenteil. Bei offenem Dach und wehendem Haar wird hier die Landstraßen entlanggefahren. Babyblaues Cabrio und Rockmusik. Ein Gefühl von Freiheit und jugendlichem Leichtsinn macht sich breit. Das Liebespaar kleidet sich die meiste Zeit in unschuldigem Weiß. Selten weichen sie von der unbefleckten Farbpalette ab. Im Falle Théos kommt man dabei nicht umher sich an den jungen Tadzio aus „Tod in Venedig“ erinnert zu fühlen. Einmal stöckelt Anne in roten High Heels durch das verwüstete Wohnzimmer. Meine Erinnerung trügt mich sicher, aber ich möchte meinen, dass Théo dabei am Boden und somit ihr zu Füßen liegt, mit seinen Halbschwestern spielend. Farben scheinen im Film unterschwellig eine Rolle zu spielen. Unterschwellig ist hier das Stichwort, denn so begegnet uns vieles, was den Film von anderen Genrevertretern abhebt. Der Handlungsablauf ist der zu erwartende, abgewichen wird im Umgang mit bzw. in der Darstellung von diesem.

    Anne versucht aus Angst aufzufliegen ihrem Mann das Wochenende mit seinem Sohn auszureden, die beiden sitzen am Terrassentisch und hinter ihnen, im Haus, am Fenster, in der Mitte des Bildes, tigert Théo in seinem gläsernen Käfig auf und ab. Oder ist er das Spielzeug in der Box. Wer hat hier eigentlich die Zügel in der Hand? Ein starkes, ambivalentes Bild. So ambivalent bleibt es bis zum Schluss. Wer ein grafisches Ende wie bei „Ma Soeur“ erwartet, wird enttäuscht sein. Die Brutalität äußert sich hier in der moralischen Unbeschlossenheit. Im Aussparren einer finiten Aussage. Somit wird das Publikum zu Komplizen*Komplizinnen gemacht. Wir haben diesem Spiel beigewohnt, werden aber nicht mit einem Gefühl der Bestätigung entlassen. Die Hand, die uns füttert, beißt uns.
    Ob Breillats gekonnte Inszenierung ausreicht, um diese altbekannte Geschichte sehenswert zu machen, sei jeder Person selbst überlassen. Die letzte Einstellung ist jedenfalls unbestreitbar prägnant.
    Das Bild verdunkelt sich allmählich, einzig der Ehering funkelt wie ein längst verglühter Stern auf der schwarzen Leinwand.
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    27.12.2023
    23:06 Uhr
  • In der Reife liegt die Lust

    Sex mit dem Stiefsohn. Einmal auf einschlägigen Pornoplattformen eingegeben, schon poppen allerlei Filmchens an die Oberfläche, die den speziellen Reiz eines solchen verbotenen Geschlechtsakts zelebrieren. Man sieht: Fans dieser Sorte des Betthupferls gibt‘s zu Genüge, nicht umsonst werden deswegen Clips wie diese zuhauf abgedreht. Aus diesem moralischen Fegefeuer zur eigenen Befriedigung entkamen auch schon so einige Filme. Zum Beispiel Königin mit Trine Dyrholm, die mit ihrem Stiefsohn unter die Laken schlüpft – mit fatalem Ausgang. Natürlich geht sowas nicht gut, mit Sicherheit lässt sich ein Seitensprung wie dieser, innerhalb der selben vier Wände, in denen auch der gehörnte Ehegatte weilt, auf Dauer nicht verbergen. Was sich die beiden Liebenden da wohl gedacht haben?

    Jetzt will auch noch Altmeisterin Catherine Breillat (u. a. Romance XXX) dieser Sache auf den Grund gehen. Und meint dabei, entdeckt zu haben, das Moral per se nichts ist, womit wir uns als Mensch eigentlich herumschlagen müssten. Vive la Anarchie! Das Gewissen ist ein stacheliges Ruhekissen, das man weglegen muss, ist das hedonistische Weltbild doch das einzig Wahre. Natürlich ist es reizvoll, zu tun, wonach einem verlangt – und sei es die Frau des eigenen Vaters, für die man erotische Gelüste hegt. Zu so einer Partie gehören letztendlich aber zwei, will man die Palette zu ahndender sexueller Gewalt aussen vorlassen. Im letzten Sommer ist in erster Linie kein Film über ein Verbrechen im Sinne des Rechtsstaats. Allerdings ein Film über ein Verbrechen im Sinne des Anstands, der Würde und des Respekts. Beide, sowohl Léa Drucker (Close) als Anne und Samuel Kircher als ihr siebzehnjähriger Stiefsohn Théo fühlen sich von all diesen Werten scheinbar befreit. Die Egomanie feiert ihr Sommerfest, der missratene Jungspund plündert sogar die eigene Wohnung, raucht in den eigenen vier Wänden und sticht seiner Reservemutter ein Tattoo, bevor er ihr kurze Zeit später die Zunge in den Mund steckt. Nun ja, Anne kommt das nicht ungelegen. Der Reiz der kernigen Jugend, das Feuer eines lustvollen Minderjährigen. Zugegeben: das ist strafbar auch im Sinne des Rechtsstaats. Doch darum geht es Catherine Breillat überhaupt nicht. So, wie sie die beiden inakzeptablen Liebenden darstellt, möge ihre Sympathie mit ihnen sein. Meine bekommen sie nicht.

    Im letzten Sommer, der bei der diesjährigen Viennale läuft, wurde von Breillat höchstpersönlich präsentiert. Als Antwort auf ihre abschließenden Worte, sie wäre schon neugierig, auf welche Seite sich das Publikum schlagen würde, käme mein ganzes Mitleid wohl dem Ehemann Pierre zugute, der sich bei seinen beiden Adoptivkindern zwar auch rar genug macht, um nicht die Last einer späten Vaterschaft austragen zu müssen, der aber zumindest moralisch soweit integer bleibt, um nicht mit der hauseigenen Putzfrau ins Bett zu steigen. Seine Figur ist das Zentrum, in welchem man sich notgedrungen wiederfinden könnte. Außerhalb dieser Blase, in denen verzweifelt gerettete Fragmente eines vormaligen Vertrauens herumschwirren: die nicht wirklich weit gedachten Moralkonzepte einer erwachsenen, klugen Frau, die jedoch ihrer Midlife-Crisis zum Opfer fällt, und ein psychoaggressiver Jüngling, der manchmal an Timothée Chalamet aus Call Me by Your Name erinnert, jedoch nicht dessen Leidenschaft besitzt. Kurzsichtigkeiten wie diese reiten alle ins Unglück. Beim dritten Liebesakt, begleitet von heftigem Augenrollen meinerseits, ist das Interesse an den beiden längst flöten gegangen. Die schmachtende Léa Drucker, die selbst nie zum Orgasmus kommt, und der keuchende Samuel Kircher, des sich mit seiner Libido auch irgendwie schwertut, bleiben flache, psychologisch wenig ergründete Abziehbilder aus einem schwülstigen, sonderbar trivialen Liebesroman, in welchem nur das skandalöse erotische Abenteuer zwischen zwei Generationen zur für Breillat befriedigenden Provokation reicht.



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    27.10.2023
    19:04 Uhr