Oasis

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Forumseintrag zu „Oasis“ von anachronista

anachronista (25.02.2024 12:23) Bewertung
Oasis
Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2024
Kinder planschen im Meer vor einer Betonmauer in schaumigen Wogen. Allerdings ist es nicht die Gischt, die den Schaum produziert. Im Hintergrund ist eine große Industrieanlage zu sehen und nach einer Weile wird blubbernd Flüssigkeit durch ein Rohr ins Meer geleitet. Es ist ein starkes, erschütterndes Bild, das Tamara Uribes Dokumentarfilm Oasis eröffnet. Weiter geht es mit Szenen mittendrin in den Protesten, die Chile in den Jahren 2019 und 2020 erschütterten. Tausende gingen auf die Straßen damals. Barrikaden und Straßenschlachten waren keine Seltenheit – ebenso wie schwerverletzte oder sogar tote Demonstranten.

Eine der zentralen Forderungen der Demonstranten: eine neue Verfassung. Als Konsequenz kündigt der damalige Präsident Sebastián Piñera 2020 ein Referendum an, in dem alle Chilenen darüber abstimmen können, ob sie eine erneuerte Verfassung wollen. Die alte Verfassung des Landes stammt noch aus der Pinochet-Epoche. Unter dem faschistischen Diktator wurden Indigene, Frauen und andere marginalisierte Gruppen per Gesetz unterdrückt und ungleich behandelt. Viele sehen in ihr gar den Ursprung der Ungleichheit in dem südamerikanischen Land. In dem Plebiszit spricht sich eine große Mehrheit der Bevölkerung für die Erneuerung der Verfassung aus. Die neue soll von gewählten Volksvertretern erarbeitet werden, unter denen es zu diesem Zeitpunkt eine starke linke Mehrheit gibt. Der neue Entwurf ist auch in ökonomischen und ökologischen Aspekten sehr progressiv. Allerdings wird der Verfassungsentwurf bei der neuerlichen Abstimmung nicht angenommen. Zu links scheint er für einen großen Teil der Bevölkerung gewesen zu sein. Desillusioniert bleiben all diejenigen zurück, die für die fortschrittliche Verfassung gekämpft haben.

Der Film porträtiert verschiedene Phasen der Bewegung für eine neue Verfassung. Dabei gibt es keine Protagonisten, die längerfristig begleitet werden. Vielmehr handelt es sich Mitschnitte von offiziellen Kongresssitzungen aber auch von Versammlungen und Plena feministischer und anarchistischer Gruppen und Organisationen. Das Besondere ist dabei, dass die Kamera meist nicht das filmt, was sie filmen soll. So sind statt der Sprecher oft dösende Kongressabgeordnete zu sehen, oder enttäuschte Linke, die ihrem Ärger Luft machen. Oasis erzählt vom Aufstieg und Fall einer linken Bewegung.

Doch der Film zeigt auch Rechte und Nationalisten, die einer Verfassungsänderung ablehnend gegenüber stehen und die eine Neuverteilung der Macht für überflüssig halten. Sogar Pinochet-Verehrer gibt es, die einem Soldaten auf einer Demonstration überschwänglich danken.

So ist der Film dank seiner dialektischen Bildsprache vor allem auch ein Zeugnis für die tiefe Spaltung dieses Landes, das zwar besser dasteht als andere in der Region, aber nichtsdestotrotz von massiver sozialer Ungleichheit geprägt ist.
Die Regisseurin Tamara Uribe ist Teil des Dokumentarfilm-Kollektivs MAFI, das den Film produzierte. Da die Ereignisse sich in dem Zeitraum überschlugen, war eine flexible Herangehensweise prägend. Wichtige Entscheidungen wurden häufig erst während den Drehs getroffen. Es dürfte an dieser Spontaneität liegen, dass Oasis dermaßen unmittelbare Einblicke in eine politisch-soziale Bewegung ermöglicht und dadurch ein Gefühl der Nähe erzeugt.
 
 

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