Hör auf zu lügen

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Forumseintrag zu „Hör auf zu lügen“ von UR_000

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UR_000 (27.11.2023 22:13) Bewertung
Wenn queere Liebe geheim bleiben muss
„Hör auf zu lügen“ ist die Verfilmung eines autobiografisch gefärbten Romans von Philippe Besson, der 2021 mit dem Euregio-Schüler-Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Der französische Regisseur Olivier Peyon hat den Stoff in seinem sechsten Langspielfilm für ein möglichst breites Publikum aufbereitet. Was man merkt.

„Hör auf zu lügen“ weicht ein wenig von der Vorlage ab und stellt den erfolgreichen Schriftsteller Stéphane Belcourt ins Zentrum, der in seine Heimat zurückkehrt und dort mit seiner Vergangenheit konfrontiert wird. Er blickt auf eine leidenschaftliche, heimliche Liebe zu einem Schulkollegen zurück. Außerdem erhofft er sich Antworten vom Sohn seines damaligen Geliebten.

Bei einer Literaturadaption gibt es verschiedene Ausgangssituationen. Man hat das Buch gelesen und schaut sich den Film an, weil es gut war. Wenn Leser*innen nicht so begeistert waren, besteht die Hoffnung, dass der Film besser wird. Eine weitere Variante ist, „Hör auf zu lügen“ ohne Vorkenntnisse anzuschauen. (Diese Position trifft auf die Autorin dieser Zeilen zu.)

Regisseur Peyon stellt die Gegenwart ins Zentrum. Der renommierte Autor Stéphane Belcourt wird in seiner Heimat geehrt. Der im französischen Film etablierte Guillaume de Tonquédec gibt ihn gesetzt, weltgewandt, man merkt die Autorität des erfolgreichen Schriftstellers. Alle sind oberflächlich um sein Wohlergehen besorgt. Guilaine Londez sorgt mit ihrem komödiantischen Talent und Timing für aberwitzige Situationen. Es ist herrlich, ihr zuzuschauen, wie sie den berühmten Sohn der Stadt von Termin zu Termin bringen und dafür hetzen muss.

In den ruhigeren Momenten wird deutlich, dass diese kurze Rückkehr für Stéphane nicht so einfach ist. Die richtigen Worte für eine wichtige Rede wollen sich nicht einstellen, überall sind die Spuren der Vergangenheit. Diese wird in Rückblenden aufgerollt. Dazu entführt der Film in die Jugendzeit, fängt die geheime Liebe zwischen Stéphane und Thomas in all ihrer Leidenschaft und Zerbrechlichkeit ein. Gleich zu Beginn stellt Thomas klar: Alles muss geheim bleiben. Fortan bilden die leere Turnhalle, Stéphanes Zimmer, wenn keine Erwachsenen zuhause sind, und ein abgelegener See die Schauplätze dieser Begegnungen. Untermalt von Musik, die das Lebensgefühl und den Zeitgeist unterstreicht, nähern sich die beiden nicht nur körperlich an. Die beiden Jungdarsteller glänzen, erwecken die Vergangenheit zum Leben. Sie lassen erahnen, wie schön und gleichzeitig kompliziert es sein kann, die Person zu lieben, die man liebt, man selbst zu sein. Es ist ein Einblick in die Schwierigkeiten einer queeren Lebensweise in einer nicht allzu weltoffenen Gegend.

Peyon porträtiert dieses Milieu mit genauem Blick. Ein Umfeld, das Menschen, die anders sind, Hindernisse in den Weg legt. Das bisschen Öffnung basiert auf wirtschaftlichen Vorteilen: Mit der Produktion von Cognac kommen etwa Kunden aus Übersee. Die Touren nutzt der Regisseur, um mehr Humor in die Handlung zu bringen. Das funktioniert einigermaßen, ist aber klischeehaft (Touris lassen sich sehr leicht beeindrucken) oder nähert sich Schenkelklopfern an (Stichwort: Alkohol macht die Zunge locker). Kurze Episoden, die zur Geschichte eigentlich nichts beitragen.

Schließlich sollte es noch immer um Stéphane, den mittlerweile verstorbenen Thomas und deren Umgang mit ihrer queeren Identität gehen. Immerhin kommt der Fokus wieder zurück zur Klärung des jähen Endes der Beziehung zwischen den beiden. Stéphane erhofft sich, von Thomas‘ Sohn Lucas (gespielt von Jean-Paul Belmondos Enkel Victor Belmondo) Antworten zu bekommen. Manchmal ein wenig überkonstruiert, bringen die Gespräche viel Gefühl und Schmerz auf allen Seiten ans Licht. Es ist eine Suche nach Wahrheit, von beiden Figuren. Die gewichtigen Themen werden verhandelt. Liebe, Verständnis, Verlust, Distanz, zu sich stehen oder sich verstecken müssen, Offenheit und Verdrängung bilden ein Spannungsnetz, das es zu entwirren gibt.

Eine weitere Ebene in diesem Zusammenhang, auf die immer wieder angespielt wird, ist das Verhältnis von Fiktion und Realität. Wie viel ist in Stéphanes Romanen wirklich Fiktion? Wie viel ist wahr, wie viel gelogen, also rein erfunden? Eine spannende, aber nicht allzu überraschende Frage, wenn die Hauptfigur Schriftsteller ist …

Olivier Peyon hat im Gespräch am Queerfilmfestival verraten, dass er einen bekannten Darsteller gewählt hat, um einen hohen Wiedererkennungswert zu haben. Dadurch kann er ein breiteres Publikum ansprechen. Diese Anbiederung an Sehgewohnheiten zeigt sich ebenso an der Dramaturgie. „Hör auf zu lügen“ reiht sich erzählerisch in ein altbekanntes Schema ein, das einfach nichts Neues liefert: Der berühmte Sohn kehrt in seine Heimat zurück, zu der er wieder finden muss, und in der er Fragen zur Vergangenheit klären möchte/muss. Ein wenig selbstgefällig läuft er durch die Gegend und lässt sich huldigen. Er erzählt dabei teilweise selbst viel über seine Gedanken. Die Handlung in der Gegenwart vermag wegen ihrer mangelnden Originalität nur wenig Spannung aufzubauen. Peyons Film plätschert eher dahin. (Zu) selten unterbrochen von mitreißenden Rückblenden und der einen oder anderen Szene voller emotionaler Dramatik.

„Hör auf zu lügen“ fehlt die Balance zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Konzentration auf den alternden Autor sorgt für wenig Überraschungen, kaum Spannung. Vielleicht eine Anbiederung an die erwachsene Zielgruppe? So werden nicht viele intime Szenen von homoerotischen Begegnungen notwendig. Interessant wäre die Entwicklung der jungen Liebe. Die Bilder der Leidenschaft, jene von unbeschwerten Momenten oder auch Gespräche, in denen sich die großen Unterschiede zwischen Stéphane und Thomas andeuten, lassen das Publikum näher heran. Mehr davon hätte für mehr emotionale Tiefe sorgen können, mitunter für mehr Spannung. Vielleicht hätte man gerne mehr von dieser ersten Liebe gesehen und erfahren.

Dieses Ungleichgewicht drängt die Frage nach der literarischen Vorlage wieder in den Vordergrund. Der routiniert, konventionell, aber nicht allzu spannend inszenierte Film schafft eines, wenn man das Buch nicht kennt: Man möchte wissen, was und wie es dort erzählt wird. Zumindest bei der Autorin dieser Zeilen war dies die vorherrschende Frage. (Ja, sie hat sich geklärt, aber das ist keine Buchrezension.)
 
 

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