Archiv der Zukunft

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Forumseintrag zu „Archiv der Zukunft“ von Filmgenuss

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Filmgenuss (02.04.2024 17:11) Bewertung
Sammeln, um die Welt zu verstehen
Es ist ein altehrwürdiger, fast schon heiliger Ort. Ein Prachtbau der Erkenntnis und des Imperativs für Ordnung und Übersicht. Als Ist-Zustand ist diese Ordnung längst nicht erreicht. Es scheint, als spräche aus dem Chaos eine Stimme zu uns, die zum Inhalt hat: Mensch, erkenne!

Die Rede ist vom international renommierten Naturhistorischen Museum in Wien, dass wir vermutlich alle aus unserer Kindheit kennen, wenn so manches rekonstruierte Skelett diverser Dinosaurier auf uns Dreikäsehochs herabgeblickt oder anderes fein säuberlich präparierte Getier uns in Staunen versetzt hat. Mit dem NHM, so die Abkürzung, verbindet mich nicht nur die eigene Kindheit oder die begleitete Kindheit des eigenen Nachwuchses, das in diesen Hallen gerne Stunden voll kindlicher Ehrfurcht verbracht hat. Mit dieser Institution verbindet mich auch mein Werdegang als Grafik-Designer, hatte ich mir doch als abschließendes Thema für meine Diplomarbeit die Corporate Identity selbiger zur Brust genommen. Warum ich damals nicht darauf gekommen war, als visualisiertes Logo vielleicht einen DNA-Strang zu verwenden, bleibt mir ein Rätsel. Stattdessen stellte ich den erkennenden Menschen als nacktes, kleines, sich windendes barockes Lebewesen in den Mittelpunkt, entnommen aus dem Kuppelfries des historistischen Baus, der sich mehr oder weniger selbst sieht, indem er auf das Kunsthistorische blickt, dazwischen Maria Theresia als aufgedonnerte Universalherrscherin.

Archiv der Zukunft blickt hospitierend hinter die Kulissen der Ausstellungssäle und dem, was alle Welt sonst so sieht. Viel wichtiger für diesen Hort des Wissens ist das, was genau dort abgeht, wo niemand sonst vorbeikommt, es sei denn, er bucht eine Führung ins Unterbewusstsein eines bis unter die hohe Decke vollgestopften Gebäudes, um voller Respekt und vielleicht auch mit etwas Verwunderung auf jahrhundertealte Sammlungen zu blicken, die in alten Ladenkästen und Archivboxen vor sich hindämmern und je nach wissenschaftlicher Anfrage von überall auf der ganzen Welt aus dem Schlaf geholt werden. Der Filmemacher Joerg Burger, unter anderem bekannt für das Fotografinnenportrait Elfi Semotan, Photographer, macht Stippvisiten in all die Teilbereiche des Hauses, das geht von Grundlagenforschung über Taxonomie und Taxidermie bis hin zu den Fachbereichen Zoologie, Botanik und Mineralienkunde. Auch für Archäologen ist da einiges dabei, und wenn die kleine, pummelige Gestalt der Venus von Willendorf mit etwas Ähnloichem wie einem MRT-Scanner durchleuchtet wird, so ist das Abenteuer Forschung aus erster Hand. Diese Leidenschaft lässt sich schon auch erspüren, obwohl Burger eher nüchtern an die Sache herangeht. Er selbst beobachtet und stellt Fragen, die wir nicht hören. Es ist ihm auch nicht wichtig, wer in seinem Film zu Wort kommt, man kann sich schließlich denken, dass Gelehrte es sind, die über ihr Tun referieren. Manches davon ist hochkonzentrierte Büroarbeit, es sind mitunter staubtrockene, monotone Arbeiten, zum Wohle der Allgemeinheit und der Ordnung, die nicht mal ansatzweise geschaffen wurde, sind doch über Jahrhunderte hinweg Naturalien mehr oder weniger respektlos in diverse Sammlungen verbannt worden, die erst jetzt so richtig gesichtet werden. Das Chaos regiert die Forschung, die Forschung stemmt sich dem nicht enden wollenden Hinabrollen des Felsens von Sisyphos entgegen, und auch wenn viele da hinter ihren vollgestopften Schreibtischen an einen Strang ziehen – es wird nicht weniger.

Die Natur hat viel zu bieten, erklärt Burger, ohne es zu erwähnen. Und für jedes Fachgebiet lässt sich eine gewisse Faszination lukrieren. Es ist das Entdecken und Begreifen, das so glücklich macht, und tatsächlich wirken Burgers Gesprächspartnerinnen und -partner freudig-entspannt, jedoch nicht begeistert. Das monotone Klassifizieren ist eine Sache, die andere ist der rote Faden des Films, wenn es darum geht, das Skelett eines Dinosauriers zu rekonstruieren und so aufzubereiten, dass er im Schauraum auch die Jüngsten abholen kann. Mit moderner Technik lässt sich vieles hinkriegen, was früher unmöglich war oder länger gebraucht hätte. Ein 3D-Drucker scheibt unter Ächzen einen ganzen Dino-Schädel aus dem Rechner. Vieles jedoch bleibt analog und mutet an wie vor hundert Jahren, wenn Feldforscher ihre Bälger beschriften, fein säuberlich auf ein Stückchen Papier, auf dass es im Laufe der Jahrzehnte genauso eine Patina trägt wie jene, die noch zu Kaiserszeiten hingefriemelt wurden.

Archiv der Zukunft gibt Einblick und Rückblick, macht auch nicht davor Halt, sich selbst und seine Geschichte kritisch zu betrachten und Unbequemes zu erwähnen. Das Lamento über ein viel zu knappes Budget fällt immer und immer wieder, es ist, als wäre Burgers Film ein Spendenaufruf an alle oder gar eine Botschaft ans Ministerium für Wissenschaft und Bildung. Dazwischen wird weiter emsig geputzt, gereinigt und klassifiziert. Mit der Zeit wird auch dieser Blick hinter die Kulissen von einer staubigen, nach Spiritus, Kalk und Papier riechenden Trockenheit heimgesucht. Viel Pepp hat Archiv der Zukunft nicht. Es zeigt, was es zeigt, manchmal gar zu wenig, und filmisch betrachtet ist der andere Blick, den Filmemacher ihrem Werk zugestehen, hier nicht von Wert. Sein Einblick in ein Museum von Welt gerät manchmal zur Diashow, und dann wieder zum nüchternen Lehrfilm mit wenigen Extras – fast, als wäre alles eine längst fällige Widmung all derer, die amtlich und ehrenamtlich ihre Zeit und mehr als das investieren, um das prachtvolle Leben rundherum zu beleuchten und wertzuschätzen. Ambitioniert ist das, keine Frage. Und ja, auch recht interessant. Nur den frischen Wind, der durchs Gebäude wehen sollte, lässt Burger außen vor.



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