Astrakan

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Finn (04.11.2022 18:04) Bewertung
Coming-Of-Age Drama der anderen Art
Das prächtige Astrakhanfell ist das Fell des Lamms des Karakulschafs. Das so zart, weich und warm aussehende Fell kommt in Wahrheit von Karakul-Frühgeburten, nicht normal ausgetragenen und an durch Aborten der Muttertiere gewonnenen Föten.
Während das weiße Lamm im christlichen Glauben besonders mit Konnotationen der Wehrlosigkeit und Unschuld belegt ist, sein weißes Fell die innere Reinheit und Frömmigkeit symbolisiert, ruft das Astrakhan die ersten Opfergaben eines schwarzen Lammes - das gleich unschuldig ist und vor oder kurz nach der Geburt geschlachtet wird - hervor.

Keine Liebe wird so selbstverständlich vorausgesetzt wie jene zwischen Mutter und Kind, keine Unschuld so wenig hinterfragt wie jene von Kindern.
Hier setzt das imposante Spielfilmdebüt von Depesseville an, in dem er mit der einfühlsamen Geschichte des Waisenkindes Samuel den Boden, auf dem sich der Zuschauer befindet, ins Wanken bringt.

Der Filmbeginn trägt sich im Reptilienhaus eines Zoos zu, in dem der zwölfjährige Samuel eine Vogelspinne an der Glasvitrine leicht reizt. Anlässlich einer Feierlichkeit wird einige Momente später ein Hase in seiner Küche aufgehängt und gehäutet.

In der Hoffnung, sich aus ihren ökonomischen Schwierigkeiten zu befreien, wurde der junge Bub von einer Pflegefamilie im französischen Morvan eher aus finanziellen als humanen Gründen aufgenommen.
Als Samuels komplexe Psychologie und seine nach Liebe suchende Seele sich bei den Pflegeeltern Marie und Clément als Unerreichbarkeiten erweisen, schickt Marie ihn zu der Farm ihrer Eltern aufs Land. Entgegen einem ruhigen Zufluchtsort stellt sich die dortige unterkühlte Situation für den Buben als unangenehme Erfahrung dar.
Fortlaufend taucht das gleichaltrige Mädchen Helene in seinem Leben auf, mit der er erstmals Ausdrucksformen der Sexualität in seiner katholisch geprägten Welt entdeckt.

Aus der Sichtweise des jungen Buben erlebt man seinen Alltag, lernt seine Denkart zu verstehen und durch wirklichkeitsnaher Präsenz der Kamera erblühen Samuels subjektive Auffassungen und Vorstellungen. Samuels “innere” Welt ist Gegenstand der Darstellung und Abbild.
Während die erwachsenen Charaktere in ihren Verhaltensweisen zu erkennen sind, zeigt sich die Figur des Jungen in individuell und durch äußere Einwirkung motivierten Handlungen. Das bekräftigt das ständige Missverstehen zwischen dem Jungen und den Erwachsenen.

Kindheit, Identität, Sexualität, Liebe, Familie und Geld als abstrahierte Grundgedanken der Geschichte werden durch die scheinbare Nüchternheit der präzise gefilmten Beobachtungen klar ausgedrückt.

Auch wenn sich Astrakan’s dramaturgische Prinzipien bezüglich konflikthafter Situationen und kollidierender Interaktionen zum Teil überlagern, so entfaltet Depesseville’s Einsatz von Jump Cuts untermalt von Bach Symphonien effektive Wirkungsweisen um Spannung auch auf unkonventionelle Art zu generieren.
So wie das schwarze, hilflos isolierte Astrakhan-Schaf einem existenziellen Kampf ausgesetzt ist, so entspinnt sich in Samuels Welt ein Konflikt, der die Bedeutung von Liebe und Geborgenheit sowie seinen Daseinsgrund ergründet.
 
 

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