Die Schüler der Madame Anne

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Forumseintrag zu „Die Schüler der Madame Anne“ von Movies Are My Jam

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Movies Are My Jam (12.11.2015 13:06) Bewertung
Ergreifendes Milieudrama
Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar versucht mit „Les héritiers“ ein wach-rüttelndes Milieudrama zu zeigen, was ihr auch erfolgreich gelingt.
Ihr neuer Film handelt von einer „außer-Kontrolle-geratenen“ Abschlussklasse eines Pariser Gymnasiums, die auf alles Lust hat, außer auf Schule. Das gesamte Lehrerkollegium ist sich sicher, aus dieser Klasse wird sowieso nichts. Auch die Schüler selbst glauben nicht daran irgendwelche vielversprechenden Zukunftsaussichten vor sich zu haben, also wozu sich eigentlich noch Mühe geben?

Alles scheint sich aber zu ändern, als die neue Lehrerin Madame Anne – wunderbar gespielt von Ariane Ascaride – die „Null-Bock“ Klasse übernimmt. Durch ihre kluge und charismatische Art schafft sie es tatsächlich zu den Schülern durchzudringen und ihren Respekt für sich zu gewinnen. Mit Hilfe eines Projekts will sie versuchen das Gemeinschaftsgefühl der Klasse zu fördern. Thema: „Kinder und Erwachsene im System der nationalsozialistischen Konzentrationslager“.

Ab diesem Punkt macht der Film eine 180° Drehung: er wird tiefgründiger in seinem Ton und regt die Zuschauer auch wirklich dazu an, nachzudenken. Die ernste Thematik verändert die ganze Weltanschauung der Schüler, sie begreifen nach und nach das enorme Gewicht dieser Aufgabe, wie wichtig die Vergangenheit ist, wie absolut notwendig es ist, das Holocaust-Thema immer und immer wieder zu aufzurollen, damit auch niemand das schreckliche Menschheitsverbrechen je vergisst. Das Tüpfelchen auf i bildet der Zeitzeugenbesuch von Léon Zygul: Er berichtet über seine Zeit in einem Konzentrationslager, wie er gemeinsam mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert wurde, wie er unter den unvorstellbarsten Bedingungen gelitten hat, aber trotz allem die Hoffnung nie aufgegeben hat. Bis heute hat er sich seine positive Einstellung bewahrt, er glaubt nach wie vor an den Kampf gegen den Rassismus und stattdessen für die Würde des Menschen. Bei diesem ergreifenden Moment bleibt im Kinosaal wahrscheinlich kein Auge trocken.

„Les héritiers“ verlässt sich auf die Grundthese „In der Kürze liegt die Würze“: Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar „verschwendet“ nie mehr Zeit als unbedingt notwendig bei einer Szene. Dadurch bekommt der Film einen relativ schnellen Erzählrhythmus, es passiert immer etwas, man kann seine Augen nie von der Handlung abwenden. Obwohl zum Beispiel das Thema Rassismus nie direkt angesprochen wird, begreift man anhand von kurzen und prägnanten Szenen, dass noch immer darunter gelitten wird: Eine dunkelhäutige Frau will im Bus ihren Sitz einer weißen älteren Dame anbieten, diese nimmt das Angebot jedoch nicht, auf den Briefkästen der Nachbarn vom Schüler Malik (Ahmed Dramé) steht immer wieder „Scheiß Juden“, der Schüler Oliviér (Mohamed Seddiki) konvertiert zum Islam und weist eine dezent antisemitische Gesinnung auf, etc. Auf die soziale Herkunft der einzelnen Schüler wird ebenfalls nie direkt eingegangen, aber z.B. anhand der kurzen Szene, in der die Schülerin Mélanie (Noémie Merlant) unzählige Alkoholflaschen in ihrer Wohnung wegräumt, während ihre Mutter auf der Couch schläft, begreift man die Situation des Kindes.

Die ruhig geführte Kamera (scheint beinahe wie eine Handkamera) gibt dem Film einen Touch eines Dokumentarfilms: die harten Fakten werden aufgerollt, es wird nichts beschönigt dargestellt, wodurch jedoch alles viel realer wirkt. Auch die sparsam eingesetzte Klaviermusik baut die richtige Atmosphäre auf, sie wirkt überhaupt nicht kitschig oder fehl am Platz, sondern sehr passend. Das Drehbuch ist fantastisch geschrieben, auch hier merkt man, dass nicht mehr Wörter verwendet wurden als unbedingt notwendig waren. Die kurzen, aber sehr aussagekräftigen Sätze haben einen enormen Effekt auf den Kinozuschauer. Als beispielsweise der Schüler Max (Stéphane Bak) in die Klasse kommt und einfach nur „Il aurait évitée (Es hätte verhindert werden können)“ sagt, bekommt man ein äußerst mulmiges Gefühl in der Magengegend.

Filme wie „Les héritiers“ sind wichtige Filme, sie führen uns vor Augen, wie wenig die Menschen eigentlich aus ihrer Vergangenheit gelernt haben, denn Rassismus ist nach wie vor ein weit verbreitetes Problem, auch in unserer eigentlich aufgeklärten Gesellschaft. Immer noch werden Menschen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Religion oder ihrer sexuellen Orientierung unfair behandelt, ein Verbrechen, das eigentlich gar nicht mehr geschehen dürfte. Um aber solche menschenunwürdigen Handlungen zu unterlassen, muss man sich mit der Vergangenheit beschäftigen, man darf nie vergessen, was einst geschehen ist, sonst könnten womöglich dieselben Fehler wiederholt werden. Die jetzige Generation ist der Erbe der Vergangenheit, und nur wenn sie sich mit ihr auch ausdrücklich befasst, kann sie daraus lernen.

Marie-Castille Mention-Schaar zeigt aber, dass wir mit Hilfe von gescheiter Bildung durchaus dazu fähig sind aus unseren Fehlern zu lernen. Und da der Film auf einer wahren Begebenheit beruht, lässt das den Kinobesucher mit einem Hoffnungsschimmer zurück.
 
 

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