Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2024
In der Wiener Quellenstraße, mitten im 10. Bezirk Favoriten, ein Viertel mit überdurchschnittlich hohem Ausländeranteil, sind die ruhigen Momente selten geworden. Wundern braucht sich niemand: unmittelbar vor Ort, im Gebäude mit der Hausnummer 142, hinter bunt bemalten Toren, befindet sich eine der größten Volkschulen der österreichischen Bundeshauptstadt. Mehr als 23 Klassen, mehr als 500 Schülerinnen und Schüler sind in der VS Quellenstraße untergebracht. Eine 25-köpfige Klasse der Brennpunktschule – so bezeichnet man Schulen, in denen großer Lernaufholbedarf besteht – hat Ruth Beckermann drei Jahre lang mit der Kamera begleitet. Die Wiener Dokumentarfilmerin, bekannt für hochpolitische Filme wie „Waldheims Walzer“ – Filme, in denen sich die Regisseurin gerne auch selbst zu Wort meldet - ist für ihre aktuelle Arbeit in den Hintergrund getreten. Als stille Beobachterin, die das ungestüme Klassengeschehen wertfrei und umso intimer einfängt. Ein Melting Pot unterschiedlicher Kulturen und Wertekataloge. Inmitten von Chaos, Trubel und Streit: eine engagierte Klassenlehrerin, die ihr Bestes gibt, um jedem Kind, unabhängig von sozialer Herkunft und Klasse, eine rosige Zukunft zu ermöglichen. Alles lässt sich Ilkay Idiskut von ihren Schützlingen aber definitiv nicht bieten, wenn eine blöde Aussage fällt, folgt der dementsprechende Gegenwind. Den Buben, denen aus dem Elternhaus ein überholtes Frauenbild mitgegeben wurde, muss sie mehrfach erklären, dass Mädchen gleichwert sind. Rollenklischees werden direkt, aber doch spielerisch abgebaut - solange bis es ein jeder verstanden hat.
Aller pädagogischen Bemühungen zum Trotz machen sich im Hintergrund grobe Systemlücken erkennbar. Ein akuter Lehrkörpermangel macht es lernbedürftigen Kindern besonders schwer. Da kann es schon vorkommen, dass man sich den Frust von der Seele tanzen muss. In einem anderen Moment wird zwei Eltern der Lernfortschritt ihres Kinders erläutert. Die beiden – selbst Studienabsolventen, deren Titel in Österreich nicht anerkannt werden - macht die konsequente Segregation zwischen Gymnasium und (als Ablöse der Hauptschulen verstandenen) „Neuen“ Mittelschulen baff. Wie soll man Kindern eine chancengleiche Zukunft ebnen, wenn manchen schon in jungen Jahren grobe Stolpersteine in den Weg gelegt werden? Baustellen über Baustellen im heimischen Bildungssektor. Umso bemerkenswerter, wie Beckermann mit nüchternem, objektivem Auge Zuversicht und Hoffnung aus dem geächteten Kosmos „Problemschule“ schöpft. Wenn beim finalen Adieu das eine oder andere Tränchen verdrückt wird, ein Gefühl von Dankbarkeit das Klassenzimmer erfüllt, dann dürfte spätestens klar werden: dieses Land braucht mehr Unterrichtende wie Frau Idiskut.