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    Das Glück steckt im anderen Keks

    Dieses Amerika, das wir hier sehen, ist ein Land aus einsamen Seelen. Es sind dies geschäftstüchtige Migranten, Flüchtlinge, die sich schuldig fühlen, ihren Wurzeln den Rücken gekehrt zu haben. Es sind dies glückssuchende Singles aus der Arbeiterklasse, melancholische Mechaniker und weinerliche Therapeuten, die sich selbst therapieren. In Fremont und darüber hinaus treffen diese Leute aufeinander, interagieren, sozialisieren, und sind dennoch allein auf weiter Flur. So zurückgezogen, so isoliert, so alleingelassen haben sich die Vereinigten Staaten schon lange nicht mehr angefühlt. Zuletzt vielleicht in Chloé Zaos Nomadland, dann aber nie wieder. Das Amerika, so wie wir es kennen, ist zwar längst nicht mehr der Ort, wo Träume wahr werden und Möglichkeiten unbegrenzt sind, aber immerhin noch einer, an dem Menschen, ihrem alten Leben entkommen, versuchen können, neu anfangen.

    Blickt man nach Fremont, könnte man meinen, in einer Kleinstadt irgendwo in Finnland gestrandet zu sein. Wie ausgestorben scheint es hier, mit Menschen in ihren vier Wänden und auf du und du mit ihrem Schicksal. Jede und jeder geht der Arbeit nach, und meist ist diese recht monoton. Eine dieser Glückssuchenden – denn das tun schließlich alle – ist Donya (ausdrucksstark in ihrer Ausdruckslosigkeit: Anaita Wali Zada), eine junge Afghanin, die dank ihres Engagements bei der US Army als Dolmetscherin die Chance ergreifen konnte, in die USA auszuwandern. Da ist sie nun, ohne Familie und mit dem Hass der Taliban im Rücken. Dass sie schlecht schläft, schiebt sie natürlich nicht auf ebendiese Umstände, es ist ein Symptom ohne Grund, und daher sitzt sie Stunden beim Psychiater, der ihr aus Wolfsblut vorliest und Glückskeks-Texte schreibt. Das ist das, was Donya auch macht – sie arbeitet in einer Glückskeksfabrik, wo alles noch per Hand geschieht. Das Glück wird zwar jeden Tag neu verpackt – für Donya selbst bleibt da aber nichts übrig. Und so sucht sie, und nicht nur sie, nach Zweisamkeit, nach einem Menschen an ihrer Seite. Nach Vergebung und Erkenntnis, inmitten einer stillen, introvertierten, ein bisschen traurigen Welt, die ihren Humor aber noch nicht ganz verloren hat.

    Aki Kaurismäki hätte Fremont kaum anders inszeniert. Ähnliches lässt sich mit Fallende Blätter in seinem Oeuvre auch verorten, allerdings mit viel mehr Alkohol im Spiel und einer gewissen Autoaggressivität, die Fremont fast zur Gänze fehlt. Bis ins Mark lakonisch sind beide Filme, sympathisierend mit ihren Figuren, deren Schicksal jedem egal ist, nur nicht dem Filmemacher. Die mit Enttäuschung über sich selbst und andere umgehen können, die sich, trotzdem es so scheint, im Trotz wiederfinden und einfach nicht unterkriegen lassen, weil die Suche nach dem richtigen Glückskeks meinetwegen ein ganzes Leben andauern kann. Solche zähen Charaktere, die jedoch immens fragil sind, haben sowohl Kaurismäki als auch Babak Jalali in ihre urbanen Mikrokosmen aufgenommen, in ihre verschrobenen, skurrilen Tagestraumwelten mit Geschmack und Understatement.

    Jalali hat von Vorbildern viel gelernt, er hat deren Stil variiert und neu, geradezu amerikanisch uminterpretiert, wie Jim Jarmusch es in seinen frühen Filmen getan hat und mit Fremont ein tragikomisches Kleinod geschaffen, in dem feine Situationskomik mit den Ausdrucksformen der Nouvelle Vague korreliert. In dem die Bilder, in kunstvollem Schwarzweiß, aber ohne Künstlichkeit, sich selbst genügen, innehalten, wo andre Filme längst weiter sind; beobachten und Gedanken nachhängen, die wir nicht wissen müssen, aber erahnen können. Es ist ein subtiles Spiel mit Erwartungen und sozialem Skeptizismus, eine vorsichtige Annäherung ans Lebensglück, wofür all die Kekse die gefälligsten Metaphern sind. Am Ende hat Fremont sogar eines der schönsten Schlussbilder parat, die man in letzter Zeit gesehen hat. Spätestens in dieser einen, kurzen Szene lässt sich erkennen, dass Babak Jalali als Könner seines Fachs Nuancen spürt und mit indirekten Andeutungen viel mehr sagt als mit den üblichen tausend Worten, die man sonst so hört.



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    09.02.2024
    17:27 Uhr
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    Wichtige, vielleicht sogar magische Botschaft im Keks

    Exklusiv für Uncut
    Babak Jalali zeichnet in „Fremont“ ein stilles, tiefgründiges und zugleich unterhaltsames Porträt einer Frau, der es schwerfällt, zu akzeptieren, dass auch sie ihr Glück finden darf. Der Film in Schwarz-Weiß-Bildern ist auch ein wenig Hommage an Glückskekse. (Eine großartig geglückte Hommage, aber dazu später mehr.) Neben der Hauptdarstellerin Anaita Wali Zada darf (allerdings spät im Film) Jeremy Allen White („The Bear“) als schräger, unbeholfener Automechaniker sein Können zeigen.

    Donya hat ihren gefährlichen Alltag in Afghanistan hinter sich gelassen. Die Übersetzerin konnte in die USA flüchten und arbeitet dort in der Glückskeks-Produktion. Ihr Leben ist geprägt vom Arbeitstrott, Schuldgefühlen und Schlaflosigkeit. Ein engagierter Psychiater und die Glückskekse bringen sie langsam aus ihrer eigentlich weniger glückbringenden Komfortzone.

    Wer schon immer wissen wollte, wie Glückskekse auf den Teller kommen, wird hier aufgeklärt. Gleich zu Beginn wird das Geheimnis gelüftet: Jeder einzelne Handgriff von Donya, ihrer Kollegin und Freundin Joanna, anderen Kolleg*innen und von Fan, der Verfasserin der vielleicht sogar magischen Zukunftsbotschaften, wird eingefangen. Im Gleichklang wird Teig gerührt, aufgestrichen, gebacken, die Vorhersage versteckt und eingetütet. Donyas Chef ist überzeugt, dass die Glückskekse mächtig sind. Einfach köstlich ist seine übertrieben ernsthafte, fast ehrfürchtige Einschulung, als Donya zur Autorin befördert wird. Ein Job, der sie kreativ und mutiger werden lässt. Mit einer genialen Botschaft.

    Der Leichtfüßigkeit rund um die Macht der Glückskekse wird Donyas Zerrissenheit entgegengesetzt. Als Übersetzerin für die Amerikaner ist sie in ihrem Land eine Verräterin, in den USA nicht wirklich zu Hause. Der Gewalt in ihrer Heimat konnte sie zwar entfliehen, ihre Vergangenheit allerdings nicht gänzlich hinter sich lassen. Gemeinsam mit einem Psychiater erörtert sie die Frage, ob sie überhaupt ein Recht hat, glücklich zu sein, ein Recht auf Liebe hat. In den Sitzungen werden ihre Geschichte, ihre Entwurzelung und ihr komplexer Status erörtert. Eine Geschichte mit viel Dramatik, die behutsam und facettenreich erzählt wird.

    Ein bisschen Halt bieten ihre Kollegin Joanna, die Donya in Sachen Liebesleben auf die Sprünge helfen will, und, trotz eines ambivalenten Verhältnisses, die Community in Fremont. Darunter ein Koch mit Hang zu Seifenopern. Diese Begleiter bekommen zwar nicht allzu viel Tiefe, ihr Porträt ist aber liebevoll und unterhaltsam.

    Das originelle Drehbuch lässt die Macht der Glückskekse seine Wirkung entfalten. Donya bekommt eine geheimnisvolle Nachricht und macht sich auf die Suche nach „dem Hirsch“. Schräge, aber auch vielsprechende Begegnungen inklusive.

    „Fremont“ konzentriert sich ganz auf seine Hauptfigur. Detailreich, behutsam und langsam wird Donyas Vergangenheit aufgerollt, ihre Gegenwart porträtiert und ihre Zukunft angedeutet. Dank kreativ-schräger Einfälle, Nebenfiguren mit ihren Eigenheiten und der trotz politisch-sozialer Tiefe nicht trocken präsentierten Geschichte vermag der Film zu unterhalten, in manchen Momenten sogar zu verzaubern. Wenn man sich auf die Schwarz-Weiß-Bilder, das langsame Tempo und den Fokus auf die Figuren einlässt. Eine Filmperle, die sich lohnt.

    Vielleicht wird man Glückskekse und ihre Botschaft von nun an mit anderen Augen betrachten … (oder zumindest möglichst bald eines in die Finger bekommen wollen).
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    10.01.2024
    18:08 Uhr
  • Bewertung

    Bezauberndes Kleinod

    ... eines meiner Highlights 2023 - melancholisch, leise Töne, feiner Humor, schöne Schwarz-Weiss-Ästhetik, grandiose Hauptdarstellerin. Schade dass er nur so kurz im Kino war, der Film hätte mehr Zeit und Zuseher*innen verdient!
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    30.12.2023
    20:13 Uhr