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    Ein Zeitdokument

    Man stelle sich vor, dass man selbst flüchten muss. Man stelle sich vor, dass man dabei nicht nur das eigene Leben riskiert, sondern auch das Leben des Kindes, des Ehepartners, der Eltern und der Freunde.
    Man stelle sich vor, es gäbe keinen Krieg.
    Man stelle sich vor, dass Menschen in Not geholfen wird.
    Man stelle sich vor, dass Du es bist, dem geholfen wird!
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    07.02.2024
    22:00 Uhr
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    Menschen ohne Rechte

    Über zweieinhalb Stunden reichen fast nicht, um Schicksale wie diese zu erzählen. Es sind Zustände, die an die finsterste Zeit in Europa erinnern – oder die Dystopie eines totalitären Polizeistaates vorwegnehmen, der Polen vielleicht einmal sein wird. Das ganze Szenario in Schwarzweiß zu halten, trägt nicht unwesentlich dazu bei, auch an Steven Spielbergs Schindlers Liste zu erinnern, der von einer Zeit berichtet, in der Menschen wie Vieh behandelt, entrechtet und enteignet wurden. Misshandelt, ermordet – und keine Träne nachgeweint. So sehr das auch nach Drittem Reich klingt: Ein lebendiges, denkendes Wesen so zu behandeln, als wäre es minderwertig – diese Klaviatur des Grauens spielt es immer noch. Und zwar nicht irgendwo im tiefsten Afrika, in Russland oder im Nahen Osten. Solche Töne schlägt man an der Außengrenze der ach so liberalen, alles und alle verbindenden Europäischen Union an, wenn syrische, afghanische oder Flüchtlinge von sonst wo ihr Leben aufs Spiel setzen, um dieses zu schützen. Sie gehen nicht den Weg der bürokratischen Ordnung, sondern stehlen sich über die grüne Grenze zwischen Weißrussland und Polen – das geht schneller, ist einfacher, und wenn man die entsprechenden Verbindungen spielen lässt, die Verwandte, die es bereits geschafft haben, in petto haben, könnte der Traum vom sicheren Leben Wirklichkeit werden. Denn Sicherheit, ein Dach über dem Kopf, zu trinken, zu essen und zu schlafen – sind Grundbedürfnisse des Menschen, die gewährleistet werden müssen. Das sagt nicht nur die UN Menschenrechtserklärung, das sagt auch der Menschenverstand, sofern er nicht vom autoritären Populismus so weit durchgeknetet wurde, um dann einer Doktrin zu folgen, die man kaum für möglich hält, würde man es nicht mit eigenen Augen sehen.

    Unsereins im sicheren Nest irgendwo geborgen in Österreich oder Deutschland, mit garantiertem Einkommen, Wohlstand und zum Bersten gefüllten Supermärkten – wir bekommen solche Zustände gerade mal wohldosiert über die täglichen Nachrichten mit. Und auch dann nur, wenn diese die Freiheit genießen, unabhängig zu berichten. Das ist längst nicht selbstverständlich, man muss schließlich nehmen, was man vorgesetzt bekommt. Oder man fährt selbst dorthin, an den Ort des Geschehens, um sich ein Bild zu machen, ohne Zensur, ohne Propaganda, sondern direkt, echt und schrecklich.

    In dieses Grauen wirft sich Agnieszka Holland mit allem, was sie zur Verfügung hat. Als wäre sie eine Korrespondentin vor Ort, folgt sie einer sechsköpfigen Familie auf Schritt und Tritt, von den Sitzplätzen im türkischen Billigflieger bis zum Stacheldrahtzaun, der mehr schlecht als recht die grüne Grenze markiert. Ökotouristen hätten mit dieser Waldgegend wohl eine helle Freude – die Biomasse ist enorm, Elche und Wölfe lassen sich sehen, zwischen den flechtenbewachsenen Bäumen kilometerweit nur Sumpf und Morast, in dem man leicht versinken kann. Außerdem ist es bitterkalt, Wasser ist knapp, zu essen gibt es nichts, und der Akku des Smartphones ist leer. Als die Familie polnischen Boden erreicht, werden sie aufgegriffen und nach Belarus zurückgeschickt. Es ist schmerzlich, mitanzusehen, wie schwangere Frauen Kartoffelsäcken gleich über den Drahtverhau geschmissen werden. Wie andere getreten, schikaniert und eingeschüchtert werden. Betroffenheitskino par excellence schafft Holland hier aufzuziehen, nah am Menschen, die Kamera herumwirbelnd, das Elend einfangend, als wäre ihr Film nicht fiktiv, sondern reine Dokumentation.

    Dass Green Border eben alles ist, nur keine True Story, erkannt man an dem Bedürfnis, alles anzureißen und nichts auszulassen – Keine Sichtweise, kein Schicksal, kein noch so tragisches Ereignis. Zweifelsohne macht die Machtwillkür der bösen Grenzsoldaten, die fast alle indoktriniert wurden, einfach nur wütend, man wünscht ihnen alles nur erdenklich Schlechte und könnte sich selbst motiviert fühlen, wäre man einer ähnlichen Situation ausgesetzt, mit den Aktivisten gemeinsame Sache zu machen. Die Lust an der Rebellion ist das, was Holland entfacht. Die Wut, die Ohnmacht, es ist schlichtweg eine Schande, diesen Missstand ertragen und mittragen zu müssen. Den obligaten Umdenker bei den Grenzschützern gibt es aber dann doch. Genauso wie die selbstlose Lebensretterin, die für ihren Mut alles aufs Spiel setzt. Es gibt die, die sich aus blinder Verzweiflung, aber auch völlig grundlos den Löwen zum Fraß vorwerfen und den Lichtstreifen am Horizont.

    Green Border will alles sagen, alles erwähnen, nichts schuldig bleiben, scheint dann aber bald unter seiner Last zusammenbrechen. Überambitioniert und anklagend donnert das wuchtige Werk über den Zuseher herein, der nicht weiß, wohin mit seiner Entrüstung, der sich irgendwann davon distanzieren muss, und die Chance ergreift, aus dieser Distanz eine gewisse reisserische Plakativität zu erkennen, eine pflichterfüllende Agenda, um als humanitäres Manifest zu funktionieren. Das alles ist rechtschaffen und völlig richtig, packend auch und verstörend. Vielleicht aber hätte ein Blickwinkel gereicht, vielleicht wäre es auch besser gewesen, den Film in Farbe und nicht in Schwarzweiß anzulegen, um so diesem Werk mehr von seiner künstlerischen Distanz zu nehmen. Filme wie der ukrainische Klondike, der eine kleine Geschichte aus nur einer Perspektive erzählt und gelegentlich mit Metaphern spielt, hat letztlich mehr Wirkung als die radikale Direktheit eines aus den Fugen geratenen Universaldramas.



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    03.02.2024
    18:42 Uhr
  • Bewertung

    Eine bittere Pille zu nehmen

    Exklusiv für Uncut
    Der von der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland (eine Oscarnominierung für „Hitlerjunge Salomon“ international bekannt als „Europa Europa“) gedrehte Film „The Green Border“ spielt im Jahr 2021 während der Migrationskrise, an der Grenze zwischen Belarus und der EU bzw. Polen. Die Handlung dreht sich um eine Familie, die hofft, über die polnisch-weißrussische Grenze in die Europäische Union und dann nach Schweden, zu ihren bereits in der EU ansässigen Verwandten zu gelangen. Sie kommt aber nicht an ihr Ziel und wird stattdessen ständig durch die Grenzbehörden von einer Seite der Grenze zur anderen geschoben, ohne dass man sich irgendwo um ihr Wohlergehen kümmern würde. Von da an befinden sie sich wie viele andere Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Nordafrika in einer Art Vorhölle, wo sie nicht nur gezwungen sind, in der Wildnis zu überleben, sondern auch, sich ständig von den Grenzkontrollen schikanieren und misshandeln zu lassen.

    Bedeutung der Perspektive

    Parallel dazu verfolgt die Erzählung die Personen auf beiden Seiten der Barrikaden: polnische Aktivisten, die versuchen, den frierenden und hungernden Flüchtlingen im Rahmen des Gesetzes zu helfen, eine engagierte Psychologin, die sich in die Wildnis zurückzieht, um ihren Seelenfrieden zu finden, und einen polnischen Grenzschutzbeamten, der allmählich seine durch die Propaganda geprägte Einstellung zur Situation zu hinterfragen beginnt. Dieser Ansatz ermöglicht es, das Geschehen aus allen Blickwinkeln zu betrachten (natürlich mit Ausnahme der weißrussischen Grenzsoldaten, die im Film als Vertreter des absoluten Bösen auftreten). Und wir als Zuschauer gehen den Weg gemeinsam, nicht nur mit den Opfern dieser Situation, sondern auch mit denen, die versuchen, mit allen Mitteln zu helfen, oder mit denen, die, wie die polnische Propaganda es bezeichnet, „tapfer die Grenzen des Staates vor den lebenden Kugeln [d.h. den Flüchtlingen] schützen“, die von Lukaschenkas Regime in seinem hybriden Krieg eingesetzt werden.

    Hervorragende Kameraarbeit

    Die Stärke dieses Films ist, dass er so viel Emotion und Empathie für die Charaktere hervorruft, ohne Hintergrundmusik zu verwenden und dadurch die Wahrnehmung einfach zu manipulieren. Wie macht er das? Das erste was auffällt, ist die Arbeit des Kameramanns (Tomasz Naumiuk). Da er oft im Zentrum des Geschehens steht und eine wackelige Handkamera verwendet, entsteht eine direkte Präsenz. Und obwohl es in diesem Film nicht um schöne Bilder geht, sind einige Szenen durch die Hommage an Kinoklassiker wie zum Beispiel Tarkowskis „Iwans Kindheit“ besonders einprägsam. Außerdem ist, trotz des Titels des Films, kein Grün zu sehen, da er in Schwarz-Weiß gedreht wurde. Dies ist eine weitere Entscheidung, die dem Film durchaus zugutekommt. Leider erzeugt diese aber auch, anstatt den Zuschauer weiter zu fesseln, den Effekt eines Dokumentarfilms und verleiht dem Ganzen ein falsches Gefühl von Realität. (Einerseits ist dies eine weitere Entscheidung, die der künstlerischen Komponente des Filmes durchaus zugute kommt. Andererseits erzeugt diese aber auch, anstatt den Zuschauer nur weiter zu fesseln, den Effekt eines Dokumentarfilms und verleiht dem Ganzen ein falsches Gefühl von Realität. Dies wiederum führt zu Reflexionen über das ewige Problem des Kinos. )

    Das Problem der Verhältnisse zwischen Dokumentation und Fiktion

    Eines der Hauptprobleme bei einem historischen und politischen Film wie diesem, ist die Übereinstimmung zwischen dem was auf der Leinwand passiert und der Realität. Wie wahr und authentisch muss es sein? Oder ist die Wirkung auf den Zuschauer das Wichtigste? Der Film positioniert sich nicht als Dokumentarfilm, daher sind einige Szenen, wie z.B. das nächtliche Werfen von Toten über die Grenze oder die kurzerhand durchgeführte Abschiebung einer schwangeren Frau zwar Wendepunkte für einige Charaktere, bleiben aber eher als übertriebene Manipulation und Versuch, den Zuschauer zu schockieren, in Erinnerung.

    Polarisierung der Meinungen

    Der Film wurde von der Presse gut aufgenommen und beim Filmfestival von Venedig mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet. In seinem Heimatland Polen wurde er aber durch die staatliche Propaganda und mit einer von hochrangigen Politikern geführte Hasskampagne angegriffen. Das konnte allerdings nicht verhindern, dass er auch in Polen einer der erfolgreichsten Filme des Jahres 2023 wurde und nun auch in Österreich in die Kinos kommt.
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    03.02.2024
    11:49 Uhr