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    Geburt von Vernunft und Moral

    Exklusiv für Uncut
    Dass Yorgos Lanthimos gern seltsame Werke schafft, ist kein Geheimnis. „The Favourite“ und „The Lobster“ zählen zum bizarren Œuvre des griechischen Regisseurs. Viel geschrieben wurde bereits über seinen neuen Film, der nach der Uraufführung bei den Filmfestspielen von Venedig dort den Hauptpreis gewinnen konnte und nicht zuletzt in der Award-Season gewaltig abräumt, zu den großen Oscar-Favoriten zählt. Viel wurde geschrieben zu „Poor Things“, doch längst nicht alles erzählt.

    Bella Baxter stirbt und lebt gleichermaßen. Nach dem tödlichen Brückensturz entdeckt sie der Arzt Godwin und haucht dem leblosen Körper neues Leben ein. Er verpflanzt das Baby-Hirn – Bella war schwanger zum Suizid-Zeitpunkt – in Bellas Körper und kreiert gottgleich einen neuen Menschen in altem Körper. Ein Baby im Körper einer erwachsenen Frau. Bella reift heran, ihre Züge zunächst infantil, später verbessert, doch stets mit einem merkwürdigen Gefühl für Moral und die Welt. Wer soll es ihr verdenken? So beginnt eine absurde Reise durch das vorindustrielle Europa im 19. Jahrhundert, in dessen Verlauf Bella das Leben in allen Zügen kennenlernt.

    Es ist ein Europa mit gemalten Kulissen (Painted Sets) und visionären Anleihen aus den Bereichen Retrofuturismus und Steampunk. Das Bild mal Schwarz-Weiß, mal in Farbe. Die Kamera als Fischauge oder dynamisch entlang Bellas Entwicklung. Das Ganze untermalt von einem atonalen Orchester. Die Dekoration, bestehend aus Genitalien und erotischen Motiven. Hallo, Sigmund Freud. Szenenobjekte im Operationssaal und Optik der Leute sind unangenehm und Ausdruck der speziellen Skurrilität; allen voran das entstellte Äußere des kaum wiederzuerkennenden Willem Dafoe. Unwohlsein und Staunen wechseln sich beim Betrachten ab.

    Nicht nur durch die herausragende Regie von Lanthimos funktioniert diese Expedition, nein, die Metamorphose, die Transformation von Bella geschieht mit, durch und wegen Emma Stone. Eine Schauspielleistung von allerhöchster Güte. Stone bewegt sich in menschlichen Extremen, in körperlichen Sphären mit einem Gespür für Feinheit. Mit einer gnadenlosen Leiblichkeit in grenzwertig moralischen Akten, die einen erschaudern lassen. Auf die Frage, ob sie sich sicher sei, alles zu zeigen, antwortet Stone: „Yes, it's Bella. We will do what we need to do.“ Eine Darbietung, die die geistige und physische Entwicklung am Rande gesellschaftlicher Probleme zeigt. Es hätte nicht viele Menschen auf diesem Planeten gegeben, die dazu in der Lage sind. Chapeau!

    Doch auch die Nebenrollen überzeugen. Willem Dafoe spielt Bellas medizinischen Vater sensibel und zwiespältig. Mark Ruffalo ist der schmierige Privatier Duncan Wedderburn. War Ruffalo anfangs verunsichert, ob er diesem Film etwas beisteuern mag, porträtiert er glänzend seine Rolle. Diese wiederum erkennt die widerliche Gunst der Stunde, eine attraktive, aber geistige Jungfrau auszubeuten. Klassische Analyse der Machtbasentheorie: Macht durch Wissen, durch Vorbildwirkung und durch Belohnung.

    Neben alldem steckt „Poor Things“ voller Allegorien und Interpretationsmöglichkeiten, von denen nur einige erwähnt seien. Fakt ist, dass der medial oft verwendete Frankenstein-Vergleich zu kurz greift. Dass GODwin seine eigene Schöpfung im Namen trägt, ist noch die einfachste Beobachtung. Dass er durch seine Experimente philosophische Grundprobleme aufgreift, schon weniger. Platon hat für die Unsterblichkeit der Seele argumentiert. Bella lebt in einem Zirkel ihrer eigenen Geburt und der Geburt ihres Babys. Was bedeutet In-die-Welt-Kommen? Naheliegend ist Kohlbergs Theorie von der Moralentwicklung: wie und wann entwickelt sich ein ethisches Gespür? Lanthimos‘ ganze Inszenierung und viele Mark-Ruffalo-Szenen deuten eine zynisch-absurde Lebenseinstellung an. Hier ist Camus nicht weit und Bella selbst hält lebendige Diskussionen über Zynismus.

    Obwohl es wahrscheinlich Lanthimos‘ zugänglichstes Werk ist, gibt es explizite, verstörende Szenen. Sex und chirurgische Monstrosität werden nicht abgelehnt, im Gegenteil: sie sind Teil der Geschichte. Bella als Subjekt erfährt standesgemäß zuerst die Objektifizierung des weiblichen Körpers, bevor sie sich emanzipieren und der Vernunft widmen kann. Überhaupt der zeitgeschichtliche Fakt, dass finanzielle Unabhängigkeit nur über Sexarbeit funktioniert. Ob in der Ehe oder in Prostitution. Sexuelle „Befreiung“. Letztlich ist „Poor Things“ auch Kritik an Metaphysik und an idealistischer Vernunft, befürwortet die Verbesserung real-gesellschaftlicher Probleme mitsamt dem zynischen Zitat „Philosophie ist sinnlos“. Alle diese ambitionierten Elemente verstrickt Lanthimos zu einem klaren Ganzen ohne Redundanzen, zu einem modernen Kinomärchen.

    Fazit: Eine visionäre Augenweide. Ein philosophisches Vergnügen. „Poor Things“ provoziert, ist aufregend, interessant, intellektuell, originell und einzigartig. Lanthimos‘ längster Film ist eine bizarre Studie über die Entwicklung des Menschen zu einem moralischen, vernunftbegabten Wesen. Ein wuchtiges Werk über Feminismus, über körperliche Ausbeutung, über Macht, das nichts an Aktualität einbüßt. Eine surreal-fantastische Parabel mit einer nie gesehenen Glanzleistung von Emma Stone und einem anspruchsvollen, dennoch unprätentiösen Drehbuch. Lanthimos ist nichts weniger als ein Meilenstein gelungen!
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    18.01.2024
    16:21 Uhr
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    Female Frankenstein/Pinocchio

    Innovative, fast hypnotische Bilder, großartige Schauspieler am Zenit Ihres Könnens wie Emma Stone und Willem Dafoe sowie eine etwas andere berührende Frankenstein/Pinocchio-Geschichte, die man in dieser Form und in diesem Bilderrausch noch nie auf der Leinwand gesehen hat.
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    31.12.2023
    08:07 Uhr
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    Sex sells, auch bei Lanthimos

    Exklusiv für Uncut von den Filmfestspielen in Venedig
    Die Werke von Giorgos Lanthimos haben schon einen ganz eigenen Charakter. Sperrig, brachial, bedrückend sind alles Worte, die das Werk des griechischen Regisseurs ganz gut beschreiben, denkt man nur an „The Lobster“, „The Killing of a Sacred Deer“ oder „The Favourite“ zurück. Bei seinem neuesten Film namens „Poor Things“, welcher bei den diesjährigen Filmfestspielen in Venedig die Premiere feierte, ist es jedoch alles andere als einfach, ihn in eben jene Kategorien zu packen.

    Glasgow, Ende des 19. Jahrhunderts. Eine verheiratete und schwangerne Frau (Emma Stone) stürzt sich in das Meer, um der Tyrannei ihres Ehemannes zu entkommen. Sie stirbt, fällt jedoch nicht sehr viel später in die Hände des Arztes Godwin Baxter (Willem Dafoe), der ihr auf recht spezielle Art und Weise wieder Leben einhaucht. Keinerlei Erinnerungen an ihr vorheriges Leben, ergibt sich für die junge Frau ein ganz neuer Lebensabschnitt, der von ihrem sexuellen Erwachen maßgeblich mitbeeinflusst wird.

    Dass „Poor Things“ nicht aus der Feder von Lanthimos stammt, muss an erster Stelle gesagt werden. Erneut bediente er sich an einer Romanvorlage, wie es schon bei „The Killing of a Sacred Deer“ der Fall war. Da beide Geschichten nicht unterschiedlicher ausfallen könnten, muss direkt eine Warnung für Lanthimos-Fans her: Die Erwartung, dass der griechische Regisseur erneut auf derselben oder zumindest ähnlichen Klaviatur spielt, trifft nur bedingt zu. Sicherlich kommen vereinzelte Elemente vor, die unmittelbar an frühere Werke wie „The Lobster“ erinnern (Stichwort Tiere). Elemente wie bedrückende Gefühle, ein flauer Magen sowie den einen oder anderen Schockmoment, die man ebenso mit Lanthimos assoziieren könnte, sind dagegen rar gesät. Das sagt natürlich erstmal nichts über den eigentlichen Film aus, ist aber in jedem Fall ungewohnt, wenn man auf das Werk des Regisseurs abgefahrener Geschichten zurückblickt.

    Zumindest bleibt Lanthimos sich aber in einem Element treu - der starke Fokus auf das Individuum. Erneut muss Stone her, die schon in „The Favourite“ in altertümliche Kleider schlüpfte und in altbackene Setpieces eintauchte. Es sind zwei Aspekte, mit denen sich nun auch „Poor Things“ schmückt. Style over substance kann man dem neuen Werk jedoch beileibe nicht vorwerfen, geht es nicht nur um weibliche Sexualität, sondern auch um Selbstfindung und Vergangenheitsbewältigung. Das alles ist verrückt verpackt, von schockierend und oder aufwühlend kann dagegen nicht die Rede sein. Die Tendenz zum schwarzen Humor ist hingegen am aufblühen, was immerhin für den einen oder anderen Lacher sorgt.

    Als die lustvolle Protagonistin herausfindet, was es mit ihrem ungeahnten zweiten Leben auf sich hat, stellt sich die Erwartung ein, dass diese Schieflage aufgelöst wird oder zumindest das Düstere Oberhand gewinnt, doch Pustekuchen. Es bleibt schwarzhumorig, die hinzukommenden stoischen Blicke zeugen wenig von einem tiefgehenden Psychogramm. Von dem in der Hinsicht wohl besten Vergleichsfilm „Alles was wir geben mussten“ ist der komödiantische Sexfilm dagegen weit entfernt (auch wenn es sich um einen Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen handelt).

    Fazit: Vielleicht lag es am konstant lachenden Publikum auf dem Filmfestival, das im starken Kontrast zum eigenen ungekitzelten Humor eher eine ablenkende Wirkung erzielte. Eine Zweitsichtung muss daher unbedingt her, um den Ersteindruck validieren zu können. Bis dahin bleibt Lanthimos neuester Film jedoch leider nur im Mittelfeld seiner eigenartigen Produktionen.
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    03.09.2023
    08:05 Uhr