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    Nächster Halt: Europa

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2022
    Am Anfang sieht man zwei nebeneinanderliegende Röntgenbilder, Frontal- und Seitenaufnahme einer stark gekrümmten Wirbelsäule, an der offenbar Schrauben und Metallplatten befestigt sind. Nach dem Gespräch mit dem behandelnden Arzt, der ihr bescheinigt, dass ihr Gesundheitszustand stabil ist und sie mit der Krankengymnastik beginnen kann, begleitet die Kamera Zohras (Rhim Ibrir) Heimweg, sitzt hinter ihr im Bus auf der Fahrt durch eine französische Kleinstadt. Die Einstellung dauert viele Minuten in denen nichts Außergewöhnliches passiert, Menschen steigen ein, Menschen steigen aus. Eine Haltestelle folgt auf die andere, Poste, Piscine, Europe. Hier muss Zohra raus.

    Dabei handelt es sich – wie einige Zeit später klar wird – auch um eine Metapher für ihr Leben. Ihre Aufenthaltsgenehmigung wird aufgrund ihrer Genesung nicht verlängert. Eigentlich träumt sie mit ihrem Ehemann davon, sich mittels der Familienzusammenführung in Frankreich wiedersehen zu können, doch das scheint nach den jüngsten Entwicklungen unmöglich. Sie erzählt ihm zunächst noch nichts davon. Und dann, bald nach dem nicht verlängerten Visum, verschwindet die Protagonistin für längere Zeit sowohl optisch wie akkustisch aus sämtlichen Einstellungen, obwohl andere Menschen, etwa ihr Cousin oder ihre Großmutter, mit ihr sprechen, und auf sie reagieren.

    Dieses Verschwinden kann als vorauseilendes Omen der drohenden Abschiebung einerseits, andererseits aber auch als eine Form der Selbstermächtigung gelesen werden, da sich Rhim respektive Zohra den mitleidigen Blicken entzieht, die Enttäuschung und die Angst, überhaupt die Reaktionen auf den Gewaltakt der Bürokratie nicht spielen, nicht verkörpern muss. Angesichts der Misere lässt sich das als widerständiges Moment begreifen. Als Zohra schließlich ihren Weg zurück ins Bild findet, hat sich etwas verändert.

    Doch auch schon vor dem Verschwinden ist der Film geprägt von Leerstellen. In den häufigen Telefonaten zwischen Zohra und ihrem Mann hört man stets nur ihren Part des Dialogs. Daraus geht hervor, dass er aus Verzweiflung in Erwägung zieht, die Überfahrt über das Mittelmeer in einem Schlauchboot zu wagen. Sie will nichts davon hören, viel zu gefährlich.
    Die groteske Künstlichkeit, die ein solches durch staatliche Erlaubnisse beziehungsweise Verbote fremdbestimmtes Leben prägt, spiegelt sich überall in der Machart des Films. Die teils beunruhigend lange ausharrenden Szenen, die leeren, in gleißendem Sonnenlicht daliegenden Straßen, das bereits erwähnte Verschwinden; all diese Irritationen sorgen dafür, dass es bisweilen Kraft kostet, diesen sich gegen viele Sehgewohnheiten auflehnenden Film anzusehen.

    Doch es würde sich vermutlich nicht um einen Phillip-Scheffner-Film handeln, ohne irritierende Momente. Der Regisseur, der sich bisher essayistischen Kunst- und Dokumentarfilmen widmete, lernte die Hauptdarstellerin bei der Recherche zu seinem letzten Film „Havarie“ kennen. Rhim Ibrir ist wie die im Film verkörperte Protagonistin aus Algerien nach Frankreich gekommen, um eine adäquate Behandlung für ihre Krankheit zu bekommen. Die Grenzen von Fiktion und dokumentarischer Form lösen sich deshalb nicht nur in ästhetischer sondern auch in inhaltlicher Hinsicht auf, oder wie Rhim aus dem Off zu Beginn des Films auf die Frage, was sie von Zohra unterscheide, antwortet: Nichts!
    20.02.2022
    08:28 Uhr