Black Mirror: Bandersnatch

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Forumseintrag zu „Black Mirror: Bandersnatch“ von cinemarkus

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cinemarkus (18.07.2023 16:00) Bewertung
Richtige Entscheidung?
Exklusiv für Uncut
Volle Punktzahl, ernsthaft? Warum mich Bandersnatch extrem begeistert hat, ich damit sehr spät dran bin und das aber (vielleicht) auch gut so war, erfahrt ihr hier.

Im London der 1980er lebt Videospielenthusiast Stefan. Er ist ein großer Fan eines Fantasyromans namens „Bandersnatch“, in dem der Leser Einfluss auf die Geschichte nehmen kann. Also möchte er prompt ein Videospiel daraus machen. Und so begleiten wir ihn auf seinem steinigen Weg zur Realisierung des Projekts. Und noch vieles, vieles mehr…

Eine Handlungszusammenfassung gestaltet sich nicht ganz einfach, ist der Film doch interaktiv, d.h. der Zuschauer bestimmt durch seine Entscheidungen die weitere Handlung mit - wie in einem Videospiel. Etwa 5 Stunden Filmmaterial soll es geben, die durch den Pfad den man beschreitet einen ca. 90minütigen Film ergeben. Dementsprechend kann ich auch nur von dem erzählen, was ICH gesehen habe. Die Idee hat mich direkt (wie die meisten vermutlich) sehr interessiert. Durch die „Gnade der späten Sichtung“, weiß ich nun dass es fallen gelassen wurde. Schade, denn ich hätte gerne mehr derartige Experimente gesehen, auch mit vielleicht weniger guten Resultaten. Irgendwie werde ich aber das Gefühl nicht los, dass das Konzept ohnehin nur bei genau dieser Geschichte wirklich gut funktioniert.

Die Geschichte eines Mannes, der durch die intensive Beschäftigung mit dem Spiel (und seinen unzähligen Möglichkeiten) dem Wahnsinn verfällt ist per se nicht neu, funktioniert aber. Die Spiegelung mit dem Autor von Bandersnatch, und einer gewissen anderen Person (die wegen möglichen Spoilern nicht verraten wird), verleiht dem Ganzen noch zusätzliche Ebenen. Ein dazwischen eingebauter, eigentlich sehr offensichtlicher Twist war dazu durch die gezielte Ablenkung überaus befriedigend. Also storytechnisch sehr solide.

Was ihn für mich so aufwertet sind die Fragen, die er aufwirft. Seit „Matrix“ denken wir darüber nach, ob wir in einer Simulation leben und inwiefern wir überhaupt frei handeln. „Inception“ begab sich in ähnliche Gefilde und erforschte Traum und Realität. „Butterfly Effect“ führte vor Augen wie kleine Entscheidungen große Konsequenzen haben können. Die dänische Tragikomödie „Helden der Wahrscheinlichkeit“ (eines meiner absoluten Überraschungshighlights der letzten Jahre) verband diese Idee, mit den Themen Trauer und Schuldgefühlen. Und nicht erst durch den Multiversumsboom des letzten Jahres („Everything, Everywhere all at once“, „Doctor Strange“, „Across the Spider-Verse“) fasziniert mich die Thematik von Paralleluniversen und ihren Möglichkeiten extrem.

„Bandersnatch“ kombiniert alle diese Konzepte zu einem wilden Mix, der sich trotzdem frisch anfühlt. Neo stand vor einer Entscheidung, nimmt er die blaue oder die rote Pille. Hier bekommen wir alle paar Minuten eine vorgesetzt. Manche wirken erst banal, bis sie sich später ihre Auswirkungen zeigen. Doctor Strange hat letztes Jahr (in einem eher mittelmäßigen Film) eines der für mich interessantesten Konzepte aller Zeiten etabliert: Träume sind Blicke in andere Universen. Hier verhält es sich ähnlich. Stefan erwacht sehr oft aus einem „Traum“, nur um sich dann nicht sicher zu sein ob es überhaupt einer war. Und die Verwirrung springt auf mich als Zuschauer über. Das Einbauen oder eben Weglassen von kleinen Details lässt auch mich an meiner Erinnerung zweifeln und mich fragen ob das nur eine andere Timeline war, oder wir uns schon in einer solchen befinden.

Wenn verschiedene Pfade letzlich aber immer wieder zum selben Ergebnis führen, wirft das die Frage auf, ob freie Entscheidung nur eine Illusion ist und alles vorherbestimmt ist. Dialoge und Handlungen die sich in unterschiedlichen Zeitlinien spiegeln unterstreichen diesen Gedanken. In gewisser Weise steuert uns der Film auch zum bestimmten Ende, denn immer wenn eine „falsche“ Entscheidung getroffen wurde, kehren wir erst recht wieder zu einem vorherigen Punkt zurück.
Haben wir am Ende alle denselben Film gesehen, nur in einer anderen Reihenfolge?

Ich hatte in den letzten 3 Jahren (trotz Pandemie) das Glück, dass mir einige sehr gute Dinge passiert sind, aber auch ein paar schlechte. Und immer schwang dieser Gedanke mit: welche Entscheidung, wann genau hat das mitbegründet? Was wäre wenn? Was hat das Universum mit mir vor? etc.
Das erste Mal überhaupt hat außerdem eine Therapieszene in einem mir als Zuschauer persönlich geholfen. Ich machte kürzlich ebenfalls eine Trauerphase durch, die viel mit Schuldgefühlen belastet war, und als Stefans Therapeuthin mit ihm über den Verlust seiner Mutter sprach, hatte ich das Gefühl sie redet direkt mit mir.

Die Frage ob man einen Film überhaupt objektiv bewerten kann ist vermutlich so alt wie der Film selbst. Wenn alle denselben sehen, fällt dies zumindest ein bisschen leichter. Wenn jede(r) selbst aber nun mitbestimmt was er/sie zu sehen bekommt, kann von Objektivität keine Rede mehr sein, selbst nach mehreren „Versuchen“. Bei der Bewertung kann ich mich daher nur auf mein Gefühl über dieses Erlebnis verlassen, und das sagt mir, dass mich ewig nichts mehr so beschäftigt hat. Ich wusste nie was als nächstes passiert, und nachher hab ich noch Stunden lang über ihn nachdenken müssen. Und ist es nicht das, was einen großartigen Film ausmacht?
Zuviel Metagetue kritisiere ich oft an Filmen. Nicht so bei diesem. Ein Fehlen von klaren Antworten und einem definitiven Ende, kann viel kaputt machen. Nicht so bei diesem. Auch das Konzept an sich kann bei anderen Geschichten fehl am Platz sein. Aber nicht bei diesem.

Ich selbst fand „Matrix“ immer ziemlich overhyped (heute weiß ich natürlich um seine Genialität und seinen historischen Wert Bescheid). Jetzt kann ich endlich nachvollziehen wie sich die Zuschauer damals gefühlt haben müssen. Vermutlich war ich zu jung, oder es war einfach der falsche Film zur falschen Zeit. Bandersnatch war jedenfalls der richtige Film zur genau richtigen Zeit für mich. Oder eben nicht; denn die Folgen davon wird erst die Zukunft zeigen.

P.S. Dass ich ihn rein „zufällig“ in meiner Schaureihenfolge direkt vor Black Mirror S02E02 eingeschoben habe, die mit demselben Gabelsymbol aus dem Film beginnt, hat das Erlebnis nicht weniger creepy gemacht.
 
 

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