Theater Camp

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Forumseintrag zu „Theater Camp“ von Heidi@Home

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Heidi@Home (29.01.2023 23:05) Bewertung
Was vor „Fame“ geschah...
Exklusiv für Uncut vom Sundance Film Festival
„Theater Camp“, basierend auf dem gleichnamigen Kurzfilm aus dem Jahr 2020 von Molly Gordon und Nick Liebermann, beschäftigt sich, Nomen-est-Omen, mit einem der Lieblingssujets von Filmschaffenden weltweit: Der Ausübung des Künstlertums.

Im Mockumentary-Stil wird ein Sommercamp für nicht allzu privilegierte, nicht allzu stromlinienförmige Kinder porträtiert. Es ist der Sommer in dem Joan (Amy Sedaris), die Leiterin und Seele des Camps, erstmals nicht vor Ort sein kann: Sie hatte einen Schlaganfall und liegt im Koma. Ihr Sohn Troy (Jimmy Tatro) übernimmt, der weder ein Theaterkenner ist, noch mit Kindern umgehen kann. Als Finanz-Influencer sucht er eher nach Wegen, das Camp gesundzuschrumpfen bzw. zu verkaufen. Derweil probt das Sommer-Ensemble ein Stück mit dem Namen „Joan, still“, eine Hommage an die Leiterin und an das Konzept dieses Camps…

Der Film erzählt seine Geschichte in atemberaubendem Tempo und er ist enorm schräg. Schon die Prämisse ist bizarr, denn warum liegt Joan im Koma? Die Lichtshow bei einer Theateraufführung hat einen Schlaganfall ausgelöst, oder wie es im Film heißt: The first „Bye Bye Birdie“-related injury in the history of Passaic County. Da weiß man gleich, wohin die Reise geht. Jede Szene ist vollgepackt mit Subtext, popkulturellen Anspielungen, gesellschaftspolitischen Zitaten. Gag folgt auf Gag, und diese Gags passieren auf mehreren Ebenen, mittels der Dialoge, der Bilder und durch die Komik der Schauspieler*innen. Es geht so rasant, dass man ganz sicher nicht alles unmittelbar erfassen kann.

Amos entgegnet einmal einem 13-Jährigen, der einen Vater spielen soll und sagt, er könne das nicht, denn er wäre ja selbst kein Vater: „Did Julianne Moore really have dementia?“ Was wieder ein schönes Beispiel für eine Bemerkung ist, die auf mehreren Ebenen funktioniert. Denn damit spielt man einerseits auf Moore an, die für ihre Darstellung einer Alzheimer-Patientin den Oscar bekommen hat, andererseits heißt ihr Film „Still Alice“, also quasi, „immer noch Alice“, während die Produktion im Theater Camp „Joan, still“ heißt, auch sowas wie „immer noch Joan“, aber auch „die stille Joan“ (die im Koma liegt).

Die Kunstwelt selbst wird erfrischend ironisch betrachtet, etwa wenn diskutiert wird, ob dieses Jahr ein „straight play“ oder aber ein Musical zur Aufführung kommen soll. Die Lehrer Amos (Ben Platt) und Rebecca-Diane (Molly Gordon), die sich schon seit ihrer eigenen Kindheit im Theatercamp kennen, kämpfen den Kampf aller Kulturschaffenden, zwischen Lohnarbeit und ihrer Selbstverwirklichung als Künstler. Amos weist einmal eine Schülerin zurecht, als diese ihn bei einer Übung als „Lehrer“ charakterisiert und sagt: „I am a performer – who is working fulltime as an acting teacher“. Amos und Rebecca-Diane sagen über sich, dass sie eine Seele teilen, worauf jemand bemerkt, es wäre wohl eher eine Co-Abhängigkeit.

Auch wenn manche Protagonist*innen deutlich überzeichnet sind, teilweise bis an den Rand einer Karikatur, sind es trotzdem Menschen, die menschlich handeln, die ihre Gefühle zum Ausdruck bringen und ihre Empathie. Die Kinderdarsteller*innen werden in ihrer Einzigartigkeit gezeigt und niemals bloßgestellt, obwohl sie oft nicht dem gesellschaftlich tradierten Bild, wie Kinder auf der Bühne zu erscheinen haben, entsprechen. Das gibt dem Film eine tiefe Wärme und Menschlichkeit, die in einer wirklich bezaubernden Endsequenz gipfelt, in der Teile des Stückes „Joan, still“ zur Aufführung gebracht werden. Hier weicht der elaborierte Witz und die beißende Schärfe einem Gefühl davon, dass Theater auch ein Zufluchtsort und eine Heimat, ja mehr noch: eine Familie sein kann.

„Theater Camp“ hat den US Dramatic Special Jury Award beim Sundance Film Festival 2023 gewonnen.
 
 

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