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    „Saltburn“ nur ohne Sex, aber im Kulturkreis China

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2024
    In letzter Zeit kamen immer mehr Geschichte über das Kino zum breiten Publikum, die von den Sozialschichten handeln, von den Superreichen, die auf den Kosten anderer Menschen leben. Auch wenn dieses Thema schon immer in der Welt des Kinos existierte und verhandelt wurde, hat wohl „Parasite“ vor fünf Jahren den Damm gebrochen. „Triangle of Sadness“, „The Menu“ und zuletzt auch der kontroverse „Saltburn“ sind auf die Welle aufgesprungen. Aus dem ostasiatischen Kulturbereich bringt Regisseur Lin Jianjie mit seinem Spielfilmdebüt „Brief History of a Family“ eine neue Inkarnation der Geschichte eines Fremden, der sich in eine reiche Familie eingliedert. Zurückzuführen ist das auf „The Talented Mr. Ripley“, einem US-amerikanischen Roman von Patricia Highsmith aus den 1950er Jahren, der auch schon akkurate Verfilmungen beschert bekam.

    „Brief History of a Family“ hingegen spielt im China der 2010er Jahre. Der extrovertierte Wei verweilt sein Leben unter schulischem Druck seiner beiden Eltern – der strenge Vater arbeitet als Zellbiologe im Medizincenter und die oft enttäuschte Mutter war einst Flugbegleiterin. Die lahmen Beziehungen innerhalb der oberschichtigen Familie erhalten jedoch bald schon neue Wallungen, als Wei einen verschlossen wirkenden, aber äußerst talentierten Klassenkameraden namens Shuo eher unfreiwillig ins Haus bringt. Es dauert nicht lange, bis die Eltern von seinem Charme und seiner Intelligenz hin und weg sind. Sobald sie in Erfahrung bringen, dass Shou von seinem Vater häusliche Gewalt erlebt, befehlen sie Wei, ihn öfter einzuladen. Wei fürchtet aber, kurzerhand ersetzt zu werden mit einer besseren Version seiner selbst.

    Wie man es mittlerweile von den Konventionen des fernöstlichen Kinos gewohnt ist, ist auch „Brief History of a Family“ audiovisuell hochstilisiert. In den vielen vertikalen, geraden Linien wirken die Figuren, als wären sie komplett eingeengt und zugleich ist das Bild in die Tiefe komponiert, sodass die Umgebung größer und erdrückender erscheint. Das Motiv der Angst, bald nur noch Ersatzsohn für die Eltern zu sein, wird bildlich immer wieder markant dargestellt, sei es durch Schatten oder Silhouetten. Zusammen mit einer musikalischen Untermalung, die sich mal bei klassischen Komponenten bedient und ein andermal mit elektrischen, metallischen Schlägen im Rhythmus eine bedrückende Wucht hervorrufen, kann man von einer souveränen, wenn auch wenig überraschenden Inszenierung sprechen. Wo der Film zumindest ein wenig ausbricht, sind die plötzlichen surrealen Träume, die die Ängste, Vorstellungen und Erwartungen wunderbar darstellen, ohne auf Exposition zurückzugreifen müssen. Spannungstechnisch verzichtet Jianjie darauf, die Gewalttaten an Shou zu zeigen, sodass man immer einen gewissen Zweifel seinem Gesagten gegenüber hegt.

    Wirklich pfiffig wirkt der Kontext von „Brief History of a Family“ aber vor dem kulturpolitischen Hintergrund. Zur Zeit der Handlung herrscht nämlich noch die mittlerweile gelockerte Ein-Kind-Politik in China, als eine Familie nur ein Kind gebären durfte. Denn dadurch ist man ja, ganz morbide gesagt, als Elternteil wählerischer und kritischer, was das Kind betrifft. Die Erwartungen sind höher. Der Leistungsdruck steigt. Wo die Hauptfigur von „Saltburn“ mit sexuellen Akten die Familienmitglieder verführte, gewinnt Shou mit seiner Leistung die fremden Eltern für sich. Zusätzlich kommt durch den Beruf des Vaters als Biologen Blut ins Spiel. Mehrmals werden Mikroskopaufnahmen von fließendem Blut zwischengeschnitten, wodurch Fragen evoziert werden wie: Ist Shou ein Fremdkörper, der das Blut der Familie vergiftet? Oder wie wichtig ist der Stellenwert des Blutes innerhalb der Familie?

    Allerdings, so sehr man auch etwas daran abgewinnen kann, dass der Film die bekannte Prämisse in eine neue Umgebung steckt: Zu viel Frische traut sich „Brief History of a Family“ dann doch nicht. Womöglich liegt dieses etwas gleichgültige Empfinden der Geschichten gegenüber an einer Übersättigung des Themas rundum Ungerechtigkeiten in einer Klassengesellschaft. Ab einem Punkt versteht man, womit „Brief History of a Family“ spielt und worauf er hinauswill und ab dann hat er kaum mehr Ideen zu bieten, die groß von der Formel abweichen. Das Ende allzu offen zu gestalten, macht das leider auch nicht wett.

    Soll bedeuten: „Brief History of a Family“ ist gewiss unterhaltsam, punktet sowohl durch eine gekonnte Inszenierung, die für ein Spielfilmdebüt doch überrascht, als auch die Verortung des Konzepts in China. Eine große Erkenntnis darf man aber nicht erwarten.
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    (Tobit Rohner)
    25.02.2024
    23:25 Uhr
    First milk, then Cornflakes
    just like my movie taste.

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