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    Eine Tragikomödie, die zwischen Glaube und Liebe steht

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2024
    Erblüht schon bald ein neues Genre der Retro-Komödie? Nachdem Paul Thomas Andersons „Licorice Pizza“ und letztens Alexander Paynes „The Holdovers“ bereits mit einem körnigen Bild, altanmutender Optik und leichtfüßiger Stimmung so wirkten, als würden sie direkt aus den 70ern stammen, gesellt sich Nathan Silvers „Between the Temples“ nun dazu. Mit seinem Look scheint der Film auch alt zu sein, aber sicherlich nicht altbackend. Es handelt sich um den ersten großen Film von Silver mit Star-besetztem Cast, narrativ angelehnt an „Harold and Maude“.

    Jason Schwartzman nämlich steht als jüdischer Kantor Ben im Mittelpunkt. Gemeinsam mit seiner Fähigkeit in den Gottesdiensten zu singen, schwindet auch sein Glauben und die Lebensmotivation. Er fühlt eine Abwesenheit in den emotionalen Verbindungen zu seinen beiden Müttern, der Glaubensgemeinde und seinem vorstehenden Rabbi. Mitten in der Mid-Life-Crisis ist es eine unerwartete Begegnung, die auf ihn stoßt, die energiegeladene Pensionistin Carla (Carol Kane). Zwar ist sie die ehemalige Musiklehrerin Bens, aber die Rollen sollen jetzt getauscht werden. Denn sie möchte ihre späte Bat Mitzwa, das Mündigkeitsritual der jüdischen Gemeinschaft, antreten. Daraus entwickelt sich eine unübliche Beziehung im Spannungsverhältnis zu Carlas Sohn und der Tochter des Rabbi Gabby, wo Interesse an Ben besteht.

    Gleich zu Beginn legt sich „Between the Temples“ als Tragikomödie fest und versucht daher die Trauer und den Frust Bens mit einer ordentlichen Schippe Humor zu kompensieren. Und das gelingt dem Film auch. Der hektisch-neurotische Schnitt erinnert in seinen besten Momenten an die Comedy-Serie „The Office“ und die Inszenierung Silvers hat eben auch einen chaotischen Charakter in sich, aber im positiven Sinne. Aus heiterem Himmel werden wie in einem alten Slapstick-Streifen Bewegungen beschleunigt oder es finden ohne Erklärung halluzinogene Elemente von zwei Figuren statt, die ihren gerade stattfindenden Dialog im Fernsehen betrachten. Das Unerwartete evoziert Lachen. Das Chaotische wirkt sympathisch. Auch Drehbuchpassagen können mit gelungenen Gags aufwarten – zum Beispiel realisiert Ben, es sei ihm vorgeschrieben nicht im Hier und Jetzt zu leben, selbst sein Name steckt in der Vergangenheit fest (wie sie den Wortwitz in der deutschen Synchro beibehalten, wird spannend). Und natürlich ist auch das Schauspiel maßgebend am Humor beteiligt. Vor allem Jason Schwartzman merkt man seine Erfahrung im Comedy-Genre an. Im ausgefallen verspielten Eifer kratzen zwar alle Darsteller:innen am Overacting, aber der Lachmuskel wird nie überstrapaziert. Lediglich Carol Kane könnte für manche Empfindungen zu viele Nerven kosten. Mit hoher, krächzender Stimme und einem ziemlich naiven Gemüt traut sie ihrer Figur womöglich zu viel Energie zu.

    Dennoch schafft es, „Between the Temples“ für jede seiner Figuren ein Herz zu entwickeln. Egal ob Nebencharakter oder der Protagonist Ben – sie alle besitzen einen gewissen Charme. Und das obwohl oder gerade, weil sie keine rein positiv besetzten Charakterzüge haben. Während man über vieles genüsslich hinweg lachen kann, finden sich auch einige extrem unangenehme Situationen vor, gerade in Familiendynamiken, mit denen man aber selbst vertraut ist. Schlussendlich begibt sich der Film auf den Weg, eine unkonventionelle Beziehung zu porträtieren und entwickelt sich daraus als charismatisches Plädoyer für die Liebe, egal wohin sie fällt.
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    (Tobit Rohner)
    25.02.2024
    23:45 Uhr
    First milk, then Cornflakes
    just like my movie taste.

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