Filmkritik zu Alle die du bist

Bilder: Port au Prince Pictures Fotos: Port au Prince Pictures
  • Bewertung

    Über Liebe, Abwesenheit von Liebe und Emotionen, die wir nicht verstehen

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2024
    Das Gefühl von Liebe, von Anziehungskraft und Intimität, das kann doch ein surreales Erlebnis sein. Komisch, dass man zu einem fremden Körper den Wunsch hegt, eins zu sein. Immerhin hat man es mit einem anderen Menschen zu tun und all den Facetten seiner Persönlichkeit.

    In diese Kerbe surrealer Liebe und feinfühliger Melancholie schlägt „Alle die du bist“ ein. Fabriksarbeiterin Nadine wird zum potenziellen Arbeitsplatz ihres wieder arbeitslosen Ehemannes Paul gerufen, weil er sich vor Aufregung vor dem Jobinterview in einen Maschinenraum eingesperrt hat. Sie begegnet ihm, um ihn zu beruhigen. Wortwörtlich, also physisch, in der Form eines sturen Stiers. Er lässt sich auf sie ein, wandelt sich zum Kleinkind und schüttet seine Gefühle aus, dann zum Teenager, um sich beim Arbeitsgeber zu entschuldigen und anschließend voller Fürsorge und Umarmungen für Nadine zur Großmutter. Schon seit sie sich kennengelernt haben, sah Nadine in Paul all diese Facetten seiner Persönlichkeit. Doch jetzt, sieben Jahre später mit zwei Kindern zum Großziehen, beginnt Nadine Paul immer länger in seiner wirklichen Form als erwachsener Mann zu sehen. Schwindet mit zunehmendem Alter die Liebe und die Sehnsucht dahin?

    Hört man nur die Prämisse, so könnte man fast schon vermuten, der Film wäre vom Arthouse-Studio A24 mitproduziert worden. Tatsächlich handelt es sich bei „Alle die du bist“ aber um einen deutschen Film, der lokal in der Kohleindustrie um Köln situiert ist. Und dementsprechend kann man alle Figuren auch im kölscher Dialekt hören. Hinter dem Projekt steckt maßgebend Michael Fetter Nathansky, der Regie und Drehbuch übernahm. Dieser ist an der Stelle mit seiner Arbeit am Skript stark zu loben. Natürlich einerseits, weil sich der Film als durchdachter Liebesfilm vom deutschen Mainstream-Kino abhebt, und andererseits, weil er im Prinzip zwei Geschichten von Liebe parallel erzählt. Nadine blickt auf die frühen Funken der gemeinsamen Beziehung zurück, als sich die beiden zuerst kennenlernten, obwohl oder gerade weil in der Gegenwart ihre Liebe zu Paul zu erlöschen scheint. Durch letzteren Handlungsstrang wirkt „Alle die du bist“ mit den verlorenen Gefühlen, die zu ergründen versucht werden, innerhalb seines Genres erfrischend erwachsen. Wo normalerweise die gängige Romanze mit dem Happy End endet, beginnt dieser Film und erzählt die Geschichte danach.

    Durch den Plot fühlt sich „Alle die du bist“ automatisch komplexer und tiefgreifender an. Die Macht des liebenden Blickes wird gleichermaßen betont wie die Verwirrung und Frustration, wenn diese Sichtweise abnimmt. Gerade Pauls zwischenmenschliche Beziehungen sind geprägt von kindlichem Spaß und verspieltem Necken. Sowohl seine romantische Liebe zu Nadine als auch die Liebe zu den beiden Töchtern besteht aus spielender Vorstellungskraft. Da stellt der Film die Frage, wie wichtig diese kindlich naive Ader für Liebe ist? Und was folgt, wenn dieser Bezug zur Vergangenheit in der Gegenwart abnimmt? Hier verflechtet „Alle die du bist“ gekonnt die privaten Gefühle und Lebenslagen mit politischem Kontext. Nadines Vorgesetzte droht den Mitarbeiter*innen im Unternehmen entweder mit mehrere Kündigungen oder massive Lohnkürzungen. Der Druck wälzt sich auf Nadine, weil ihr zugesprochen wird, sie könne als Repräsentantin die Arbeitgeberin von Alternativen überzeugen. Hemmt die Verantwortung die kindliche Liebe? Wo kann man den Frust und Druck der Arbeit auslassen?

    Der Film bietet kaum Antworten. Das muss man aushalten, aber darin liegt auch die Konsequenz des Themas. Zugleich kann man es natürlich auch als befremdlich empfinden, wenn eine erwachsene Frau an die 40 einen Teenager liebend anblickt und ihn küsst. Wenn die Geschlechter getauscht wären, dann würde das Konzept sicherlich problematischer gegenüber unseren wertbasierten Sehkonventionen ausfallen. In dem Kontext aber ist die Beziehung mit Bezug auf die surrealen Aspekte vertretbar.

    Wichtig für das Genre ist aber: Wenn es um die großen Gefühle wie Liebe und deren Abwesenheit geht, muss das Schauspiel und die Chemie untereinander sitzen. Hauptdarstellerin Aenne Schwarz verkörpert ihre Rolle fantastisch! Nicht nur bringt sie ihre Gefühle und Ratlosigkeit ganz subtil zum Vorschein, ihre Beziehung zu den verschiedenen Versionen ihres Mannes und somit den verschiedenen Darstellern ändert sich immer passend und wirkt trotzdem kohärent. Dahingehend spielt Carlo Ljubek die Rolle des Ehemannes und Vaters mit überragender Herzlichkeit und ausbrechenden Emotionen. Und selbst die beiden Kinderdarstellerinnen, die die Töchter spielen, überzeugen mit Authentizität auf ganzer Linie – genauso wie jede kleine Rolle im Cast.

    Zusammengetragen ist „Alle die du bist“ ein Überraschungshighlight in der Panorama-Schiene der Berlinale. Den Liebesfilm mit fantastischen Elementen zu kombinieren, erweist sich als vorzügliche Entdeckung, die sich der deutsche Film gerne mehr trauen könnte! Dadurch erweitert man nämlich den Blick auf mehr und diversere Emotionen. Alle Gefühle, die man haben kann.
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    (Tobit Rohner)
    25.02.2024
    23:42 Uhr
    First milk, then Cornflakes
    just like my movie taste.

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