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86.3% Bewertung
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    Ewiges Leben zwischen Leid und Glück

    Exklusiv für Uncut
    Bereits der französische Filmpionier Georges Méliès setzte 1896 zum ersten Mal die Stop-Motion-Technik für seine Filme ein. Dabei wird die Position unbewegter Requisiten von einer Bildaufnahme zur nächsten jeweils geringfügig verändert um die Illusion von Bewegungen hervorzurufen. Seither nutzen einige bekannte Regisseure diese Animationstechnik, wir denken an Tim Burtons „The Nightmare Before Christmas“ oder Wes Andersons „Fantastic Mr. Fox“. Auch der mexikanische Oscar-Preisträger („The Shape of Water“) und Kreaturenspezialist Guillermo del Toro hat sich jetzt der Technik bedient und stellt mit seiner Interpretation von Pinocchio nicht nur inhaltlich alle vorherigen Pinocchio-Verfilmungen, sondern auch alle bisherigen Stop-Motion-Filme künstlerisch in den Schatten.

    Allen Pinocchio-Verfilmungen zugrunde liegen Carlo Collodis Kurzgeschichten einer italienischen Wochenzeitung mit dem Titel „Abenteuer des Pinocchio: Geschichte eines Hampelmanns“. Carlo heißt auch in del Toros Film der kleine Sohn des Holzschreiners Gepetto, der während des Ersten Weltkrieges im Bombenhagel sein Leben verliert. In größter Trauer schnitzt Gepetto eine Holzpuppe als Ersatz, die durch die Göttin des Lebens (die blaue Fee) unter dem Namen Pinocchio zum Leben erweckt wird. Im faschistischen Italien der 1930er Jahre müssen sich Gepetto, Pinocchio und die im Holzstück lebende Grille Sebastian gegen politische Instrumentalisierung wehren und den Gegensatz zwischen pädagogischer Disziplin und kindlichem Leichtsinn ausfechten. Leider überwiegt in der zweiten Filmhälfte eine Art Action-Adventure-Roadmovie, wodurch für eine gewisse Dauer eine innere und räumliche Distanz zwischen Pinocchio und Gepetto entsteht. Einerseits liegt hier die Interpretation der jugendlichen Emanzipation eines Kindes von den Eltern nahe, andererseits birgt genau diese Beziehung die interessanteste Emotionalität im Film, die fortschreitend etwas verloren geht. Auch die klamaukhafte Darstellung des Faschismus kann zumindest mal als diskutabel notiert werden.

    Diese minimalen Kritikpunkte geraten jedoch in den Hintergrund, denn auf handwerklicher Ebene raubt der Film mit seinem Detailreichtum jeden Atem. Jede Holzfaser ist sichtbar, noch nie wurde Holzverarbeitung so realistisch, selten das Flair einer italienischen Kleinstadt so stimmungsvoll in einem Animationsfilm dargestellt. Ob Kriegsszenerien, Wasserverfolgungen oder alle traumhaften del-Toro-typischen Geschöpfe – dieser Film sieht unfassbar gut aus. Allen Ideen sind hier keine Grenzen gesetzt: die Göttinnen des Lebens und des Todes mit markanten maskenhaften Gesichtern, das Jenseits, in dem Hasen die Särge der Verstorbenen tragen, ein Riesenfisch, das Jahrmarktsetting (damit kannte sich del Toro nach „Nightmare Alley“ gut aus). Und dennoch mangelt es dem Film nicht an Substanz, der Stil ergänzt die Handlung und gibt den Figuren Würde und Persönlichkeit, die außerdem vom sensationellen Sprecher*innencast getragen wird. Ewan McGregor, Christoph Waltz, Tilda Swinton, Ron Perlman und Cate Blanchett porträtieren die Figuren. Blanchett wollte unbedingt am Projekt teilnehmen und meinte, für del Toro würde sie sogar einen Stift schauspielen. Alexandre Desplats gefühlvoller Score rundet das Gesehene auf akustischer Ebene hervorragend ab.

    Substantiell lebt der Film auch von philosophischen Implikationen. Verhandelt werden existenzialistische Fragen des ewigen Lebens und der Unsterblichkeit, der Vergänglichkeit. Die Göttin des Todes erlaubt Pinocchio nach vermeintlichen Todesfällen die Rückkehr ins Leben, warnt ihn aber vor ewigem Leid in Verbindung mit ewigem Leben. Die nihilistischen Gedanken von Sebastian Grille werden durch ein Schopenhauer-Bild in seiner Wohnung repräsentiert und in einem denkwürdigen Satz verbindet Grille das ewige Leid mit Schopenhauers Philosophie: „Das Leben ist nichts als Schmerz“. Hoffnung bietet der Film zum Ende, als auch Glück ein Bestandteil des Lebens wird; dennoch zentriert sich die Kernaussage zwischen Leid und Glück, was in Zeiten überbordender (toxischer) Positivität eine wohltuend realistische Einschätzung ist. Negatives gehört reflektiert, bekämpft, wahrgenommen und zum Leben genauso dazu wie Positives.

    „Guillermo Del Toros Pinocchio“ ist del Toros Herzensprojekt, sein erster Animationsfilm und nicht weniger als die beste Verfilmung von Collodis Pinocchio. Dass der Stoff aufgrund der philosophisch-ernsten Themen nicht unbedingt als kindliches Abenteuer verpackt werden muss, zeigt dieser faszinierende Film. Del Toro verbindet Emotion, Fantasie und Tiefe mit einer einzigartigen Ästhetik und hat eine unglaubliche Welt geschaffen, die von der ersten bis zur letzten Minute beeindruckt. Trotz leichter Abzüge in der Ausgestaltung der Handlungsfäden überzeugt dieser längste Stop-Motion-Film der Filmgeschichte als atmosphärisch-düsteres Märchen. Georges Méliès wäre hocherfreut.
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    08.01.2023
    09:25 Uhr
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    Die Bürden einer Pinie

    Der Puppenspieler von Mexiko war einmal traurig und einmal froh… das gab bereits Roberto Blanco anno 1972 zum Besten. Fast könnte man meinen, er hätte da eine Vision gehabt, von einem, der auszog, seinen Namen zu einer Marke zu machen, die über allem steht, was dessen Interesse weckt und wofür dieser jemand auch gerne sein Geld investiert: Die Rede ist von Guillermo del Toro, Monster-Meister und Phantast, kreativer Kopf sowohl im Kino als auch als Autor, mit all den Kreaturen, die seinen Stil tragen, und einer Affinität zum Gothic-Horror der Romantik. Kaum ein Regisseur weit und breit, der sich selbst und seinen Namen dem künstlerischen Werk voranstellt. Und kaum ein Regisseur, bei welchem dies auch funktionieren würde. Oder anders gefragt: Wie viele aus dem Publikum würden wohl wissen, wer all die Blockbuster diverser Franchises inszeniert hat. Gut, bei James Cameron kann man eine Ausnahme machen, sonst aber wird es dünn. Del Toro ist also hinsichtlich der Wichtigkeit seiner Namensmarke sowas wie ein Albrecht Dürer, ein Star mit einer fixen Fangemeinde, gerne gesehen und unverwechselbar. Das soll so sein, da habe ich nichts dagegen, ich selbst zähle mich spätestens seit Hellboy – Die goldene Armee zu seinen Fans.

    Längst hat del Toro mit den Trolljägern auch die digitale Animationsschiene erobert. Nun aber muss auch mal ein Stop-Motion-Film im Stile von Aardman oder Henry Selick das Können des Mexikaners auf die Probe stellen. Das kann dieser nicht allein, da muss jemand her wie Mark Gustafson, seines Zeichens Animationskünstler unter anderem für Der fantastische Mr. Fox von Wes Anderson, bei denen man Kader für Kader die Puppen bewegt, was immens viel Zeit in Anspruch nimmt – am Ende aber geschmeidige Bewegungen ergeben, die eine analoge Miniaturwelt lebendig werden lassen. Lebendig wird in del Toros und Gustafsons Trickfilm wieder mal die gute alte und fast schon auf inflationäre Weise interpretierte Leidensfigur des Pinocchio. Collodis Vorlage erfuhr mittlerweile unzählige Verfilmungen, abgesehen von der tragikomischen Anime-Serie aus den Siebzigern. Martin Landau hat mal in einer Neunzigerversion von Steve Barron den Geppetto gegeben, der Italiener Roberto Benigni in seiner eigenen Version die Holzpuppe – innerhalb von wenigen Jahren dann die barocke Version von Matteo Garrone und heuer auch die Realverfilmung des Disney-Klassikers mit Tom Hanks (die ich vorzeitig jedoch aufgrund von Geschmacksdifferenzen abbrechen musste). Der nun mit einer Produktionszeit von 15 Jahren verzeichnete, finanziell längst nicht mehr rentable Puppentrickfilm hat mit Disneys Version nicht mehr viel gemeinsam. Und das ist gut so. Überdies unterscheidet sich ohnehin jede Pinocchio-Version bis auf ein paar Eckpunkte grundlegend von der anderen.

    Der naive, unfolgsame und auf seine Art anfangs auch nervige Holzbube muss in del Toros Version nicht nur den Erwartungen von Geppetto gerecht werden und dessen leiblichen Sohn ersetzen, sondern auch dem italienischen Faschismus unter Mussolini als grotesken Giftzwerg die Stirn bieten. Klar gibt es auch den Fuchs in Menschengestalt – der Kater aber ist lieber ein Pavian, dessen tierische Laute Cate Blanchett imitiert, und der Leviathan verschlingt nicht Pinocchio, sondern erstmals den alten Schnitzer. Anders als bei Disney sind auch Pinocchios Ausflüge ins Jenseits, in welchem er halbskelettierten Hasen und einer sphinxähnlichen Kreatur mit Augen an den Schwingen begegnet, die garantiert mal Teil einer Werkschau des Künstlers sein wird. Diese poetische Dunkelheit, fast wie bei Michael Ende – dieses Auseinandersetzen mit politischen Ideologien: das sind Aspekte, die diese Version des Pinocchio noch interessanter machen als andere, wobei del Toros Pinocchio eine Leidensfigur bleibt, die mehr als einmal mit dem Wort Bürde jonglieren muss – sei dieses nun ihn selbst betreffend oder etwas, das die wandelnde Pinie bewältigen muss. Es geht viel mehr um Tod und ewiges Leben als um das Finden einer eigenen Identität. Selbst für Pinocchio muss eine Pinie sterben, unter den wütenden Axthieben Geppettos. Die eine Existenzform geht in die andere über, und am Ende erscheint dieser Übergang nur noch als vorübergehendes, bewältigbares Abenteuer.

    Tricktechnisch, in all seinen melancholisch-morbiden Bildern, ist Guillermo del Toro‘s Pinocchio ein Augenschmaus, wenngleich manche Gesichter wenig Charakter widerspiegeln, insbesondere die Figur von Geppettos Sohn Carlo. Sonst aber sind die Animationen virtuos und die tendenzielle Uminterpretation des Stoffes eine willkommene Abwechslung. Letzten Endes aber dürfte es von mir aus mal Schluss sein mit Collodi-Verfilmungen. Der Stoff scheint bis zum Holzkern auserzählt.
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    11.12.2022
    17:36 Uhr