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    from higher ground

    "möchtest du, dass behinderte als menschen gezeigt werden?"
    welcher aufgeklärte zuschauer – sofern man ihn dazu bringen kann, sich eine doku über ein sommerlager für "krüppel", wie sie in den frühen 1970ern noch ganz unverhohlen genannt werden durften, überhaupt anzuschauen – ja, wer würde da nicht kurzzeitig nach luft schnappen?

    nun, in diesem locker-ernsthaften ton geht es weiter. kinder und teenager, die in camp jened, dem so genannten "crip camp" in den new yorker catskills erstmals unter ihresgleichen ein bissel freiheit und normalität auskosten durften, unter der leitung von "abgefahrenen" hippies, die selber eigentlich auch so gar keine ahnung von der leitung eines camps, geschweige denn von der betreuung behinderter hatten. scham-lose videoaufnahmen (in schwarz-weiß) von verrenkten gliedmaßen und lachenden gesichtern nehmen jede emotionale distanz, rollstühle, krücken und ein gespräch über windeln wechseln ab mit sportlichen balgereien und wettkämpfen. alltagsprobleme wie "was kochen wir, wenn der koch frei hat" werden salomonisch zur abstimmung vertagt; medizinische probleme wie gonorrhoe und filzläuse werden mit kichern quittiert, weil sie ein beweis dafür sind, dass ihre probleme gar nicht so anders sind als die der welt da draußen. so weit, so erhebend – doch die rückkehr in den nicht behindertengerechten alltag lässt bei den camp-teilnehmern wut aufkeimen. ein eingeschworenes grüppchen ehemaliger kids von camp jened schließt sich der radikalen behindertenrechtsbewegung an, ein mehrwöchiger sitzstreik in san francisco 1977 (ua unterstützt von den black panthers, gewerkschaften oder progressiven kirchen) und immer größerer rückhalt/aktivismus in weiten landesteilen führt schließlich zum 1990 verabschiedeten americans with disabilities act.

    fazit: halb eine mitfühlende stunde über menschliches, alltägliches und schier diskriminierendes mit archivaufnahmen aus dem krüppelcamp, halb eine tour de force durch die geschichte der behindertenbewegung – von wut und selbstbewusstsein und zusammenhalt in der interessensgruppe bis zur verabschiedung von gesetzen und drohenden politischen rückschlägen. alles in allem ein bissel viel des guten… und es wäre vielleicht mehr, wenn die zweite hälfte nicht so sehr "aktivismus!" und "radikale agenda" und "ich mag leute, die ärger machen" propagieren würde, nicht so sehr den moral highground strapazieren würde – dass menschen und behinderte nicht zwei verschiedene kategorien sind, ist inzwischen ohnehin klar.

    fyi: crip camp – a disability revolution, produziert von higher ground, der produktionsfirma von barack und michelle obama, wurde 2021 für den oscar für den besten dokumentarfilm nominiert und ist auf netflix verfügbar. der oscar für den besten dokumentarfilm 2020 ging an american factory, einer weiteren produktion von higher ground.
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    12.04.2021
    00:00 Uhr