Eine Annäherung zwischen beiden Gattungen – „Cinema Vérité“ und Spielfilme mit Dokumentarfilmästhetik – war zwar schon in den 1970ern zu bemerken, doch selbst an höchst akklamierten Dokumentarfilmen war das Interesse der Academy noch gleich Null. Als 1994 „Hoop Dreams“, trotz Konkurrenz wie „Pulp Fiction“ oder „Die Verurteilten“ von namhaften Kritikern als bester Film des Jahres gelistet, ebenso übergangen wurde, zettelte Kritikerpapst Roger Ebert eine Untersuchung des Auswahlverfahrens an:
„Verlässliche Quellen“ hatten ihm berichtet, dass wegen der schieren Menge an auszuwählenden Dokus jedem Zuschauer eine Taschenlampe überreicht wurde – wer keine Lust mehr hatte weiterzuschauen, richtete sein Licht auf die Leinwand. Sobald die Mehrheit der Taschenlampen aufleuchtete, wurde der Film abgebrochen – im Fall von „Hoop Dreams“ bereits nach 15 Minuten. Nach der Oscarvergabe wurden ob des Protests die Wahlzettel untersucht; für die nominierten Filme waren größtenteils nur die Bestnoten (10) oder Nichtgenügend (0) vergeben worden, ein unerwünschter Effekt des „weighted system“. Das Wahlverfahren wurde daraufhin reformiert.
Eine der ersten Änderungen war: Stimmberechtigt war nur mehr, wer alle fünf nominierten Filme gesehen hatte. Mit dem Effekt, dass 2000 „One Day in September“ über das Olympia-Attentat in München gewann – ein Film, der nur vor ausgewähltem, dem Produzenten Arthur Cohn genehmem Publikum vorgeführt worden, aber in keinem einzigen Kino gelaufen war. Zeit für die nächste Reform...
Nach diesem Desaster wurden mehrere gleich große Gruppen von Freiwilligen für die Sichtung und Beurteilung von jeweils zehn Filmen verantwortlich, bei einer Wertungsskala von 6 bis 10; die Anzahl der Titel vor der Nominierung wurde auf 10 bis 15 begrenzt. Außerdem, Herrn Cohn sei Dank, mussten die Dokumentarfilme zumindest für eine Woche in einem Kino irgendwo in den USA gezeigt werden.
Was bald dazu führte, dass findige Produzenten für eine Woche ein kleines Kino mieteten, um diese Auflage zu erfüllen – und 2011 bereits 124 Dokumentarfilme qualifiziert waren. Zu viele – die nächste Änderung war fällig... (2012 waren dann auch nur mehr 60 Dokumentationen, für ein 160-Personen-Komitee, wählbar.)
Gegenwärtig wird mehr Wert darauf gelegt, ob ein Dokumentarfilm für sich bestehen kann – kommerziell und vor den wichtigsten Kritikern. Neue Voraussetzungen sind:
- Eine Woche kommerzieller Release in New York und Los Angeles (als Antwort auf „Festivals“ wie die „DocuWeek“ in Los Angeles, die für $ 20.000,- die Qualifikationserfordernisse besorgt hatten. Man lernt halt nie aus...)
- Filmbesprechungen in der „New York Times“ oder „Los Angeles Times“
- sowie Bewerbungen in New York und Los Angeles
- Die gesamte „Documentary Branch” ermittelt per „preferential voting“ eine Shortlist von 15 Filmen und anschließend die Nominierungen
Dass Kritik und PR, Werbung und Kommerz inzwischen so unverzichtbar geworden sind wie bei den Spielfilmen, mag manchen verdrießen – spricht aber auch für den gewachsenen Stellenwert des „Best Documentary Feature“ und das Interesse des Publikums.
Wer auch immer den Oscar gewinnt – wieder wie im Vorjahr eine erhebende Underdog-Story („20 Feet from Stardom“) oder ein schwerer Brocken über ein „wichtiges Thema“ („The Act of Killing“) – gewonnen hat bereits der Dokumentarfilm.