Vintage Views
Vintage Views: Film noir

Vintage Views: Film noir

Wieso Film noir so schwer zu fassen ist wie ein verzweifelter Mörder mit einer geladenen .38er in einer dunklen Nacht.
Wir von Vintage Views haben uns schon einmal bei Giallo an Filme gewagt, die nicht so einfach zu klassifizieren sind. Im Vergleich zu dem, was wir heute vorhaben, war das ein Kinderspiel.

Film noir. Das klingt erst mal wunderschön – sicher ein Grund für den beispiellosen Erfolg eines Begriffs, der es aus der Nische der Filmkritik und -analyse in den allgemeinen Sprachgebrauch geschafft hat. Bilder schießen einen in den Kopf: Zigarettenrauch und verregnete Straßen. Schmuddelige Detektive und gefährliche Frauen. Die Welt in Schwarz-Weiß, von trauriger Jazz-Musik begleitet. Zumindest aus vielen Parodien kennt man die Klischees.

Sie stimmen auch. Aber nicht immer. Manchmal nur teilweise. Manchmal ist da etwas ganz anderes. Wir sprechen im Kern von einer Gruppe von amerikanischen Kriminalfilmen, die in den 40er Jahren aufkamen und in den 50ern wieder verschwanden. Um 1947 herum, nach dem Ende des 2. Weltkriegs, gab es so etwas wie einen Höhepunkt ihrer Popularität. Mehr kann man schon nicht mehr mit allgemeingültiger Sicherheit sagen.

Man kann nach dem Inhalt fragen: Ein Kriminalfall bringt die Handlung ins Rollen, doch es geht nicht primär darum, den Täter zu erraten. Es gibt (mehr oder weniger) unerwartete Wendungen und der Protagonist muss oft schnell reagieren und improvisieren. Die Welt ist korrupt, die Personen haben etwas zu verbergen und am Ende geht es tragisch aus. Die immer mehr ins öffentliche Bewusstsein tretende Psychoanalyse der 40er wird oft thematisiert. Paranoia, Angst, Entfremdung. Und dann gibt es doch auch berühmte Adaptionen populärer Krimis, besonders der „hardboiled“ Literatur von Autoren wie Dashiell Hammett oder Raymond Chandler - Geschichten mit Sex, Gewalt und toughen Protagonisten.
Vielleicht ist es klüger, sich auf technische Voraussetzungen festzulegen. Ungewöhnliche Kamerawinkel und Szenen, die so ausgeleuchtet sind, dass besonders viele Schatten geworfen werden. Bilder und Geräusche, die den subjektiven Blickwinkel der Akteure vertreten und Zweifel an der Wahrhaftigkeit des Gezeigten lassen.

Aber ist es nicht auch vor allem ein zeitgeschichtliches Problem? Kriegsheimkehrer, Flucht, Zensur, und Beginn der Kommunistenhetze in den USA, dies alles und noch viele weitere Themen der 40er und 50er haben an diesen Filmen ihre Spuren hinterlassen. Ja, sie entstanden doch auch unter der Mitarbeit vieler Flüchtlinge, die die Traditionen des deutschen Kinos der Zeit vor der Naziherrschaft mit nach Amerika brachten – sowohl in der expressiven Bildgestaltung als auch mit Motiven wie Wahnsinn oder Hilflosigkeit. Oder ist das eine zu einfache Erklärung?

Ist alles irgendwie zusammen wichtig? Genau darin liegt das Problem: Je genauer man nachfragt, umso mehr häufen sich die möglichen Merkmale – und es finden sich ebenso viele Ausnahmen. Schon die grundsätzliche Frage lässt sich nicht eindeutig und objektiv beantworten: Meinen wir ein Genre von Filmen? Einen technischen Stil? Eine bestimmte Epoche? Seit mehr als einem halben Jahrhundert bezeichnet Film noir irgendetwas – so viel ist sicher – doch worauf er sich bezieht, kann man nicht generell sagen. Die Antwort hängt zu sehr von unserem persönlichen Zugang ab. Es ist eine Kategorie, die mehr zum Nachdenken anregt, als etwas erklärt.

Das hat zum Teil damit zu tun, dass sich die Filmemacher das Etikett nicht selbst verliehen haben und keiner der Klassiker mit dem Selbstverständnis, ein Film noir zu sein, gedreht wurde. Geprägt hat es die französische Filmkritik, die von den dunklen, gewalttätigen und sexuell aufgeladenen Stoffen fasziniert war und darin mehr als reißerischen Schund sah. Mit den 70ern wurde deren Verständnis dann von einer neuen Generation amerikanischer Filmemacher aufgesogen und es begann so etwas wie eine zweite Welle. Der noch losere Neo-Noir, der sich jetzt eindeutig an Vorbildern anlehnte, aber – in einer neuen Zeit entstehend und keiner strikten Zensur mehr unterworfen – an bislang unerlaubte Themen heranwagte. Oft werden auch bis heute noch nur einzelne Elemente verwendet und neu gemischt.
Der Begriff Noir hat sich verselbstständigt: Gangsterfilme und Psychothriller, Bücher und Computerspiele, Science-Fiction, Fantasy und Horror – alles hat sich schon einmal als Noir bezeichnet. Wenn man es an der Anzahl von Stilzitaten und Inspirationen festmacht, dann ist der Film noir das erfolgreichste Filmding (Ja, das ist jetzt ein Wort.) des 20. Jahrhunderts.
Sebastian Rieger

Empfehlungen zum Anschauen:

Klassiker (ein paar Filme, auf die man sich leicht einigen kann)
z.B.:
Frau ohne Gewissen
USA 1944, Regie: Billy Wilder
Detour - Umleitung
USA 1945, Regie: Edgar G. Ulmer
Goldenes Gift
USA 1947, Regie: Jacques Tourneur
Schrei der Großstadt
USA 1948, Regie: Robert Siodmak
Heißes Eisen
USA 1953, Regie: Fritz Lang

70er
z.B.:
Chinatown
USA 1974, Regie: Roman Polanski
Fahr zur Hölle, Liebling
USA 1975, Regie: Dick Richards

Genre-Crossovers
z.B.:
Blade Runner
USA 1982, Regie: Ridley Scott
Brick
USA 2005, Regie: Rian Johnson
Sin City
USA 2005, Regie: Frank Miller, Robert Rodriguez


Forum

  • klassiker der klassiker

    the maltese falcon (1941/huston)
    double indemnity (1944/wilder)
    gilda (1946/vidor)
    the postman always rings twice (1946/garnett)
    the big sleep (1946/hawks)
    dragonwyck (1946/mankiewicz)
    the third man (GB 1949/reed)
    sunset blvd. (1950/wilder)
    strangers on a train (1951/hitchcock)
    touch of evil (1958/welles)
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    07.02.2012, 19:20 Uhr