Filmkritik zu Über die Jahre

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  • Bewertung

    Ungewöhnliches Langzeitprojekt

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2015
    Was ist Zeit? In Nikolaus Geyrhalters Film scheint sie keine Bedeutung zu haben und ist doch allgegenwärtig. Genauer gesagt, dreht sich alles um sie. Aber zurück zum Anfang des ungewöhnlichen Langzeitprojektes. Dieser befindet sich im Jahr 2003, kurze Zeit bevor die Anderl-Textilfabrik im Waldviertel geschlossen werden soll. „Wir filmten zuerst mehrere Fabriken, da wir nicht genau wussten, was wir machen wollten“, sagte Geyrhalter im Publikumsgespräch. Doch die Anderl-Fabrik erwies sich als Glücksfall. Denn selbst 10 Jahre nach ihrer Schließung dominierte sie noch das Leben einiger Menschen, die er seit der Schließung der Fabrik begleitet und in unregelmäßigen Abständen zum Interview bittet. Auch, wenn sich die typisch statischen Kameraeinstellungen über die Jahre nicht verändern, gestalten sich die Lebenswege stark unterschiedlich. Denn eines ist klar: Das Zeitalter, in dem man ein ganzes Leben lang in einem einzelnen Betrieb gearbeitet hat, ist vorbei. Es ist das Porträt einer postindustriellen Gesellschaft, in der lebenslanges Lernen und Flexibilität auf der Tagesordnung stehen. Vor allem ist es aber ein Porträt über Menschen und deren Umgang mit Zeit. Arbeit vs. Freizeit, Weiterbildung vs. Stillstand, Monotonie vs. Abwechslung lauten die Devisen. Der Satz: „Man weiß nie was das Leben bringt“, wird fallen gelassen und beschreibt den Film perfekt. Bizarre Hobby, Vereinsleben und verzweifelte Arbeitssuche sind die verbindenden Elemente. Monate oder gar Jahre werden gnadenlos von Schwarzblenden verschlungen. Das eigentliche Geschehen spielt sich in den hinterlassenen Lücken ab, die von manchen durch Erzählungen wieder gefüllt werden und bei anderen mangels Unwilligkeit oder mangels für spannend befundener Lebensgeschichten schwarze Lücken bleiben.Der Kampf gegen die Leere kennt Gewinner und Verlierer. Geyhalters detailfixierter Mut zu Normalität und Nichtigkeit ist dabei besonders bewundernswert.

    Doch es ist nicht nur ein Porträt einer von Arbeitslosigkeit geprägten Gegend nahe der Tschechischen Grenze und den Alltagsproblemen deren Bewohner. Es ist auch ein persönliches Porträt eines Filmemachers, der sich auf eine Spurensuche begibt. Denn auch, wenn es nicht von Anfang an geplant war, ist Geyrhalter selbst durch seine Stimme auf dem Off stets anwesend. Seine Protagonisten stehen in ständiger Interaktion mit ihm und seiner Kamera. Ihre teilweise Unwilligkeit gefilmt zu werden und ihr Unbehagen vor der Kamera werden zum Thema, lassen noch tiefer blicken und geben dem ganzen auch noch eine gehörige Brise Humor mit auf dem Weg, was den rund dreistündigen Dokumentarfilm wie im Flug vergehen lässt – ganz so, als würde Zeit im Leben keine Rolle spielen.
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    (Patrick Zwerger)
    15.02.2015
    02:48 Uhr
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Über die Jahre

Österreich 2015
Regie: Nikolaus Geyrhalter
AT-Start: 20.03.2015