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  • Bewertung

    Eiskalt und finster wie ein Blizzard in der Polarnacht

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2015
    Die Einsamkeit ist es, was Josephine Peary (Juliette Binoche) antreibt, sich auf den weiten Weg in den Norden Kanadas zu machen, weit weg vom warmen Haus in Washington DC, weit weg von den Bequemlichkeiten dessen, was man südlich des 30. Breitengrades Zivilisation nennt. Die Einsamkeit des Herzens und der Gedanken, die die Sehnsucht nach Nähe zu ihrem Mann Robert unerträglich gemacht haben, in all den Jahren des Wartens, in denen er unterwegs gewesen war, um als erster Mensch den Nordpol zu erreichen. Als sie sich schließlich dorthin aufgemacht hat und angekommen ist, allen widrigen Umständen zum Trotz, begegnen ihr, der zuvor auf die Errungenschaften ihres Mannes stolzen Forschergattin, wiederum nur Einsamkeit und Sehnsucht, diesmal die Einsamkeit des Verlassenseins und die Sehnsucht nach Licht in der Polarnacht draußen und in ihr selbst. Ihre Reise ist, so wie die Reise ihres Mannes zum Nordpol, letzten Endes umsonst, weil sie den Nordpol doch verfehlt hat.

    Isabel Coixets Film spricht zu seinem Publikum primär durch seine verdichteten Bilder und seine im Weiß des Schnees verdichtete Szenerie der kompromisslosen Abgeschiedenheit seiner Figuren von allem, was unser Auge alltäglich erblickt und was unsere Gedanken beschäftigt. Er beschreibt, was mit der Seele und dem Verstand des Menschen geschieht, wenn er aller Zerstreuung beraubt, radikal sich selbst überlassen und mit existenzieller Not konfrontiert wird. Da verblassen bald lebenslang eingeübte Regeln und Zäune aus Standesdünkeln, die man auf höchst zivilisierte Weise aufgebaut hat rings herum, stürzen ein wie die Wände von Josephines sich im Schneesturm auflösender Baracke tief in der Arktis. Geschlechterrollen, ebenso intensiv eingeübt, wechseln aus der Not des Überlebens, der menschliche Überlebenswille wird stärker als Wille zum Leben eines gesellschaftlich vorgeschriebenen Lebens, das längst an Bedeutung verloren hat. Mitunter quälend langsam verstreichen die ewig gleichen Tage der Finsternis in der Polarnacht – genauso wie die Filmminuten, mit denen all das erzählt wird. Je länger die Dunkelheit andauert, desto stärker wird die Empfindlichkeit für Emotionen und desto verwundbarer erscheint die spürbare Belastungsgrenze für die Tragik, die sich gegen Ende schließlich breit macht. Im cineastischen Überlebenswillen siegt letztlich aber die emotionale Distanzierung über das Mitgefühl. Fragen über Fragen tauchen auf: „Wie groß ist der Preis, den wir für unser Leben zu bezahlen bereit sind?“ „Wie viel von dem, was unser innerstes Wesen bestimmt, sind wir bereit auf dem Altar der Fixiertheit auf das unbedingte Erreichen von Neuland zu opfern?“

    Besonders sticht die Japanerin Rinko Kikuchi unter den Schauspielern hervor, die an der Seite von Juliette Binoche Alaka, die Inuit-Geliebte von Robert Peary spielt. Unter all den drückenden und schwermütigen Momenten, durch die sich der Film über große Teile seiner Laufzeit schleppt wie ein ausgehungertes, müdes und vom Gefrierbrand immer hässlicher werdendes Rentier kurz vor dem Abkratzen, gejagt vom ausgehungerten, knurrenden Schlittenhund der vermeintlichen Pflicht im Schatten, im Jaulen des Schneesturms und der Dunkelheit dramaturgischer Abgründe so etwas wie nachhaltig bedeutungsschwangere Botschaften unterzubringen, bringt sie mit ihrer faszinierenden Natürlichkeit und dem fragenden, vorwurfsvollen Blick ihrer dunklen Augen Wärme auf die Leinwand – aller Kälte und Grausamkeit dessen, was Alaka im Film durchmacht, zum Trotz.
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    (Markus Löhnert )
    06.02.2015
    14:43 Uhr
    http://worteverbinden.at
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