Exklusiv für Uncut
„Collateral“, Michael Manns stilisierter Neo-Noir-Thriller aus dem Jahr 2004, ist nicht nur urbanes Katz-und-Maus-Spiel in der nächtlichen Metropole Los Angeles, sondern auch philosophischer Diskurs über Verantwortung, Moral, Freiheit und den Preis des Menschseins im Zeitalter der Anonymität. Im Zentrum stehen zwei Männer, eingesperrt in einem Taxi: Max (Jamie Foxx), der ewig träumende Chauffeur, und Vincent (Tom Cruise), der elegant-pragmatische Profikiller, der mit nihilistischem Furor durch die Nacht pflügt. In dieser engen Blechkabine entfaltet sich ein Kammerspiel über Weltanschauungen voller dichter, wenn auch nicht immer tiefgründiger Dialoge. Beispielsweise wirft Vincent Max an den Kopf, dass niemand sich um die vielen Toten in Ruanda schere – ein zynisches, aber triviales Argument aus der klassischen utilitaristischen Denkrichtung: Wie hoch ist der Wert eines einzigen Mordes im Vergleich zu tausend Toten, für die sich niemand interessiert?
Tom Cruise, bekannt als strahlender Held aus Blockbustern wie „Top Gun“ oder „Mission: Impossible“, spielt hier gegen den Rolemodel-Typus eine seiner seltenen Antagonistenrollen. Seine Darstellung des Vincent ist beängstigend präzise: abgeklärt, charismatisch, diskursiv geschult, aber im Innersten leer. Nihilismus in Reinform, getarnt als Professionalität. Jamie Foxx, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung eher für komödiantische Rollen bekannt, gelingt mit „Collateral“ der Durchbruch. Er überrascht mit nuancierter Tiefe – ein einfacher Mann, der zwischen Anpassung und Selbstermächtigung schwankt. Es ist diese Konstellation zweier grundverschiedener Weltanschauungen, die den Film so fesselnd macht: Der Mann, der nichts zu verlieren hat, gegen den Mann, der glaubt, alles im Griff zu haben. Ein Ringen um die Idee der Freiheit á la Jean-Paul Sartre: Wir sind verdammt zur Freiheit und müssen durch unsere Handlungen einer grundlosen Welt tieferen Sinn geben. Später erwacht Max aus seiner Lethargie und agiert radikal existentiell nach Sartres Worten: „Wenn nichts mich zwingt, mein Leben zu retten, hindert mich nichts, mich in den Abgrund zu stürzen.“
Regisseur Michael Mann beweist einmal mehr seine Virtuosität im Urbanen. Wie bereits in „Heat“ (1995) nutzt er die Stadt nicht nur als Kulisse, sondern als psychologischen Resonanzraum. Los Angeles erscheint hier als seelenlose Landschaft, ein Labyrinth aus Neonlichtern, Techno-Clubs und anonymen Hochhäusern. In dieser Kälte entfaltet sich eine stilisierte, fast artifizielle Spannung. Die Kamera ist nah an den Gesichtern, Close-ups und flackerndes, steriles Licht betonen die Unmittelbarkeit von Schmerz und Schrecken. Die Nacht ist niemals romantisch, sie ist technokratisch. Pop-Songs durchziehen das Geschehen, nicht zufällig platziert, sondern stets unterstreichend, wie verloren und fremd die Figuren in dieser Welt agieren.
Trotz der visuellen und emotionalen Inhaltsdichte erlaubt sich „Collateral“ seltsame narrative Ausreißer: Max’ plötzliche Wandlung zum Helden wirkt konstruiert, das Ende fällt tonal gegenüber der akkurat aufgebauten ersten Stunde ab. Der Showdown in der Metro scheint wie ein Zugeständnis an das Genre – dabei hat der Film zuvor erfolgreich mit dessen Konventionen gebrochen. Auch die Staranwältin Annie (Jada Pinkett Smith) bleibt trotz vielversprechendem Auftakt nur potenzielles Opfer und Klischee-Ziel. Eine „Damsel in Distress“, eine „Jungfrau in Nöten“, gerettet von einem Mann, der bis dahin vor allem durch Inaktivität glänzte. Die genderpolitische Schlagseite dieser finalen Wendung konterkariert die vorherige Ambivalenz.
Nicht unerwähnt bleiben darf Javier Bardems kurzer, aber prägnanter Auftritt – sein Hollywood-Debüt als sinistrer Gangsterboss Felix ist ein früher Beweis schauspielerischer Wucht, die wenig später in „No Country for Old Men“ zur vollen Entfaltung kommt. „Collateral“ steht somit auch filmhistorisch an einem Wendepunkt: Es vereint alte Stars in neuen Rollen, führt kommende Größen ein und verdichtet Michael Manns Handschrift zu einer Essenz urbaner Dystopie.
„Collateral“ ist eine filmische Meditation über die Zumutung der Freiheit in einer entmenschlichten Welt. Inmitten urbaner Leere und technologischer Kälte prallen zwei Existenzentwürfe aufeinander: der Wille zur Kontrolle und das Ringen um Bedeutung. Der Thriller überzeugt dort, wo er Distanz wagt: in seiner kühlen Ästhetik, seiner präzisen Figurenzeichnung und der konsequenten Raumdramaturgie. Wo er sich Genreformeln beugt, verliert er an Kraft. Im Kern stellt er keine moralischen Urteile aus – er legt vielmehr die Einsamkeit bloß, die entsteht, wenn Handeln zur einzigen Gewissheit wird. In dieser Bewegung – unfrei, aber notwendig – offenbart sich der Mensch als ein Wesen, das entscheiden muss, selbst wenn nichts mehr Sinn verspricht.