Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
Die Debatte um den israelisch-palästinensischen Konflikt polarisiert extrem. Wie das Leben tatsächlich Betroffener jedoch aussieht, wissen die wenigsten. Dieser Film ist ein Geschenk. „Holding Liat“ wurde bei den 75. Internationalen Filmfestspielen Berlin mit dem Berlinale-Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet. Der Film verzichtet auf Propaganda und ist bestens geeignet, das Niveau politischer und persönlicher Einsichten zu heben. Man kann ihm dafür nur dankbar sein.
Liat Atzili und ihr Ehemann Aviv wurden am 7. Oktober 2023 beim Terrorangriff der palästinensischen Hamas aus ihrem Kibbuz verschleppt. Der Regisseur Brandon Kramer, ein in den USA lebender entfernter Cousin, dokumentierte die Bemühungen ihrer israelisch-amerikanischen Familie um die Freilassung. Die Dreharbeiten starteten bereits zwei Wochen nach dem Angriff. Die Kamera zeigt die Familie beim endlosen Warten, bei Treffen mit Politikern in Israel und den USA – ständig begleitet von der Sorge um die Gesundheit der Geiseln, Zweifeln am Erfolg der Bemühungen und der Furcht, ihre Anliegen könnten zugunsten nationaler oder religiöser Interessen instrumentalisiert werden. Eine psychologische Ausnahmesituation, in der jeder anders reagiert. Am Ende prallen Freude und Trauer aufeinander, aber die Familie wird sich einig: der Weg zum Frieden ist nicht gegeneinander möglich.
„Ich wollte diesen Film nicht machen. Das ist keine Geschichte, die ich erzählen wollte, aber wir fühlten uns verpflichtet, sie zu erzählen.“, beschreibt Kramer den Beginn der Dreharbeiten und ergänzt: „ Wir hatten keine Ahnung, wie es enden würden; wir hatten keine Ahnung, ob Liat und Aviv jemals herauskommen würden. Wir hatten keine Ahnung, was die Familie durchmachen würde.“
Die Filmaufnahmen waren ursprünglich nur zur Dokumentation der historischen Ereignisse geplant. Die Idee einen Film zu machen kam dem Regisseur Brandon Kramer erst, als er erkannte, wie unterschiedlich die Reaktionen der Familienmitglieder auf die Geiselnahme ausfielen. Die gleichen Verhaltensweisen beobachtete er weltweit in größeren und kleineren Gemeinschaften. Indem er die Geschichte der Familie erzählt, hofft er, die tragischen Ereignisse besser auch für andere besser verständlich zu machen. Ziel des Filmes ist es, Diskussionen anzuregen, die dazu beitragen, den Kreislauf der Gewalt zu beenden.
Drei Generationen – fünf unterschiedliche Perspektiven
Für Liats Vater Yehuda Beinin ist die Geiselnahme von Anfang an ein Politikum. Er ist ein Kritiker der nationalistischen Regierung Netanjahus und sieht die Verbindung von Religion und Politik als Grund allen Übels. Durch die doppelte Staatsbürgerschaft seiner Familie hofft er, den amerikanischen Präsidenten für seine Anliegen gewinnen zu können. Gemeinsam mit einer Delegation israelischer Friedensaktivist:innen reist er nach Washington. Seine Frau Chaya sucht Halt in alltäglichen Beschäftigungen, die sie zugunsten ihrer Enkelkinder beibehält. Liats Schwester hält den Zeitpunkt für ungeeignet, um sich auf eine umfassende politische Lösung zu konzentrieren. Sie ist für schnellstmöglichen Austausch der Geiseln, egal um welchen Preis. Liats und Avivs älterer Sohn ist auf Urlaub im Ausland und fühlt sich ohnmächtig, weil er nicht zur Unterstützung beitragen kann. Ihr jüngster Sohn ist traumatisiert, da er beim Anschlag auf seinen Kibbuz selbst nur knapp dem Tod entging. Sein Ventil ist Zorn. Er erhofft sich von den USA militärische Unterstützung, da er bezweifelt, dass Verhandlungen mit der Hamas zielführend sind. „Fuck them, they need to die“ entfährt es ihm in seiner Verzweiflung bei einem Interview.
„Holding Liat“ ist ein auf allen Ebenen anspruchsvoller Film. Auch für den Regisseur. Brandon Kramer befasst sich mit der sehr belastenden Geschichte einer Familie, der er selbst angehört. Trotz persönlicher Betroffenheit aller Beteiligten kommt dieser Film der selbst auferlegten historischen Verantwortung mit größter Sorgfalt nach. Alle Generationen kommen zu Wort. Jeder Meinung wird Platz eingeräumt. Brandon Kramer begleitet die Familie mit viel Fingerspitzengefühl in ihrem Wechsel zwischen öffentlichem und privatem Leben. Die zutiefst ehrlichen Aufnahmen zeugen vom Vertrauen, dass ihm seine Verwandten entgegenbringen. Das gilt auch für die Kameraarbeit, die bei einem Dokumentarfilm, noch dazu unter diesen Bedingungen, überrascht: Oft ist man den Personen so nahe, dass man den Eindruck bekommt, man würde ihren Atem spüren. (Etwa als der Großvater Yehuda Beinin in Washington auf einen libyschen Friedensaktivisten trifft.)
Trotz großen persönlichen Verlust will die Familie nicht missbraucht werden, um weitere Gewalt in Gaza zu rechtfertigen. Liat Atzili ist Lehrerin für Geschichte und arbeitet unter anderem als Führerin an der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel. Sie ist Friedensaktivistin und Sprecherin der Organisation Israeli-Palestinian Parents Circle-Families Forum (PCFF), der ausschließlich Familien angehören, die Verwandte durch den Konflikt verloren haben.
(Näheres unter holdingliat.com oder theparentscircle.org).
Die Besonnenheit und uneitle Selbstreflektion, von denen dieser Film zeugt, verdienen tiefen Respekt. „Holding Liat“ ist ein Film, dessen Notwendigkeit weit über künstlerische Ansprüche hinausreicht.