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  • Bewertung

    Eine ästhetische und moralische Gratwanderung

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Albert Serra, der für seine unkonventionellen und anspruchsvollen Filme bekannt ist, bringt mit „Tardes de soledad“ eine Dokumentation auf die Leinwand, die die Stierkampftradition in einem neuen, verstörenden Licht zeigt. Serra folgt dem 28-jährigen peruanischen Matador Andrés Roca Rey, der als Star seiner Zunft gilt, durch mehrere spanische Arenen. Die Zuschauer werden Zeuge, wie der junge Matador sich gewissenhaft auf sein gefährliches Handwerk vorbereitet, das Publikum begeistert und schließlich den tödlichen Stoß ausführt. Die Dokumentation besticht durch nüchterne, fast klinische Bilder, die den Zuschauer zum Nachdenken zwingen: Ist das, was wir hier sehen, Unterhaltung, Sport, Folter oder archaisches Ritual? Serra gibt keine Antworten. Vielmehr lädt er uns ein, diesen Fragen selbst auf den Grund zu gehen. Wir beobachten sowohl den Matador als auch den Stier in einer Art Parallelwelt, in der die Gewalt zum Tagesgeschäft gehört. Das scheinbar simple Spektakel eines Nachmittags entfaltet sich als tiefgründige Meditation über Schmerz, Ruhm und den unausweichlichen Tod.

    Serra nutzt die Ästhetik, um das Unerträgliche erträglich zu machen. Die Kamera fängt das minutiöse Ritual des Ankleidens des Matadors im Hotelzimmer ebenso ein wie die tödliche Choreografie in der Arena. Die traditionellen Bewegungen, die der Matador vollführt, erscheinen fast wie ein Tanz, der das Publikum in seinen Bann zieht. Doch diese Faszination ist ambivalent, denn die Kamera verweilt auch auf den Augen des Stiers, die voller Angst und Unverständnis sind. Wir sehen die Welt aus der Perspektive des Tieres, das unweigerlich seinem Ende entgegensieht, und aus den Augen des Matadors, der seine Pflicht erfüllt, ohne Emotionen zu zeigen. Besonders in den letzten Sekunden des Lebens des Stiers scheint die Zeit stillzustehen. Der Kampf ist entschieden, aber Serra verweigert dem Zuschauer den schnellen, brutalen Schnitt. Stattdessen lässt er uns die quälenden Momente der Agonie miterleben. Diese Sequenzen sind schwer auszuhalten, doch gerade durch ihre ästhetische Inszenierung schaffen sie es, uns zum Nachdenken zu zwingen: Warum ist es so schwer, den Blick abzuwenden?

    Die Diskussion über die Moral und Ethik des Stierkampfes wird von Serra bewusst ausgeklammert. Stattdessen zeigt er die Momente vor und nach dem Kampf, das Schweigen und die Einsamkeit, die den Matador umgeben, und überlässt es dem Zuschauer, eine Position zu beziehen. Auch auf die Kritik und den Protest, die die Dokumentation während des Festivals ausgelöst haben, geht Serra nicht weiter ein. Es ist, als ob er sagen würde: „Seht hin und entscheidet selbst.“

    „Tardes de soledad“ ist kein Film, den man leicht verdaut. Die Ambivalenz der Gewalt, die Spannung zwischen Faszination und Abscheu und die ungefilterten Einblicke in eine Welt, die viele als archaisch und grausam empfinden, lassen den Zuschauer tief betroffen zurück. Die Ästhetik der Gewalt ist hier nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel, um eine tiefere Auseinandersetzung mit den eigenen ethischen Grenzen zu provozieren. Serra ist es gelungen, das unbehagliche Thema des Stierkampfes in einer Weise zu beleuchten, die es nicht romantisiert, aber auch nicht verurteilt. Seine Dokumentation ist eine künstlerische Meisterleistung, die den Zuschauer vor die Frage stellt: Wie weit reicht unsere Bereitschaft, Gewalt als Kunstform zu akzeptieren?
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    MYB
    (Melike Yağız-Baxant)
    24.10.2024
    21:17 Uhr