Filmkritik zu The Brutalist

Bilder: Universal Pictures International Fotos: Universal Pictures International
  • Bewertung

    Das nächste große Epos?

    Exklusiv für Uncut von den Filmfestspielen in Venedig
    Es gibt Filme, von denen behauptet man, sie würden heute gar nicht mehr produziert werden. Die kein Hollywoodstudio, der Angst vor fehlender Vermarktbarkeit geschuldet, überhaupt erst anfassen würde. „They don’t make them like they used to.“ „The Brutalist“ von Brady Corbet (u.a.: „Vox Lux“) ist ein solcher Film: ein dreieinhalbstündiges, Jahrzehnte umspannendes Epos über Wunschvorstellung und Wirklichkeit des amerikanischen Traums, festgehalten in schnörkelloser Analogfotografie, umrahmt von einer Ouvertüre und einer 20-minütigen Intermission zur Halbzeit. Vergleichen mit „Der Pate“ oder „Es war einmal in Amerika“, den üppigen amerikanischen Epen der Siebziger, nicht scheuend. Ist das Größenwahn oder genuine Liebe zum Kino? So ganz wird man nach einer Erstsichtung des Films nicht schlau, fordert der Film in all seiner Detailverliebtheit ja geradezu wieder – und wieder entdeckt zu werden. Bemerkenswert ist das allemal.

    Ein architektonischer Traum in glanzvollem 70mm

    Bei der Weltpremiere in Venedig ratterten vergangene Woche die analogen Projektoren. Ganz altmodisch hat Corbet mit dem VistaVision-Produktionsformat gearbeitet; das dabei entstandene 35mm-Material wurde nachträglich auf 70-Millimeter-Film gepresst. In Venedig huldigte man den Vorführer als heimlichen Star der Vorstellung, war die Arbeit nach fast vier Stunden vollbracht, gab es erstmals tosenden Applaus aus dem Publikum – verdienterweise. Dass allerdings nur die wenigsten den Film in dieser analogen Bildgewalt bestaunen werden dürfen, kreiert einen fahlen Beigeschmack. Denn: rein technisch kann „The Brutalist“ seine übergroßen Versprechen halten. Wie Corbet und sein Team, das Projekt war sechs Jahre lang in der Produktionshölle, das Amerika der Nachkriegszeit wiederauferstehen lassen, ist prachtvoll mit anzusehen. So formvollendet, ambitioniert und megalomanisch wie die Architektur unseres Protagonisten. Dieser wirkt wie aus dem Leben gegriffen, beim Schauen meint man, die Biografie eines real existierenden Menschen zu erleben. Einer außergewöhnlichen Persönlichkeit, die von Geschichtsbüchern hintergangen wurde. Dabei hat László Tóth, dessen Lebenswerk ausschweifend nachgezeichnet wird, nie existiert.

    Die perfekte Illusion?

    Als Tóth (Adrien Brody), Holocaustüberlebender ungarischer Herkunft, nach Ende des Zweiten Weltkrieges in die USA emigriert, kann er sein Glück kaum fassen. Der gewiefte Architekt, der lange in Armut verweilen musste, darf endlich wieder seiner großen Liebe nachgehen. Ein Unternehmer aus wohlhabendem Familiengeschlecht (Guy Pearce) würde zu seinem wichtigsten Klienten werden: der privaten Bücherei soll ein moderner Neuanstrich verpasst haben. Alles scheint wunderbar zu verlaufen, ein paar Jährchen später reisen auch Ehefrau Erzsébet (Felicity Jones) und die verwaiste Nichte Zsófia (Raffy Cassidy) nach ins Land der schier unbegrenzten Möglichkeiten. Im Streben nach bautechnischer Perfektion übersieht man ominöse Warnsignale: antisemitische Ressentiments, eine Arbeitsweise, die auf maximalen Gewinn zielt und das einzelne Individuum nicht berücksichtigt. Toth, ein Mann, der dem Faschismus entflohen war, findet sich auf einmal im Todeskreislauf des Kapitalismus wieder und flüchtet sich in die Sucht. Dem Schlaraffenland des American Dream wird schrittweise der Wind aus den Segeln genommen, das geschieht erschreckend und brachial. Diese bedauerliche Progression lässt einen nicht kalt, trägt Oscarpreisträger Adrien Brody („Der Pianist“) den Spagat zwischen kindlicher Wissbegierde und herzzermürbender Erkenntnis mit sensationellem Feingefühl. Das (Schauspiel-)Duell, das sich Brody und Pearces Van Buren, dessen fragliche Moral mehr und mehr zum Vorschein kommt, liefern, ist furios. Ein Mammutwerk von solch einer Opulenz und Schönheit verlangt jedoch ordentlich Sitzfleisch ab. Da kommt es wenig gelegen, dass im Mittelteil zunehmend melodramatische Abzweigungen genommen werden, das Tempo, so dynamisch der Schnitt sein mag, gelegentlich zu Halt kommt. Ob „The Brutalist“ dem Kanon der amerikanischen Meisterwerke gewachsen ist, der erst 36-jährige Brady Corbet sich derzeit auf der Höhe seines Schaffens befindet, wird sich noch zeigen müssen. Dass nicht mehr schiefgelaufen ist, grenzt, angesichts der hochgesteckten Ambitionen, aber an ein Wunder. Und die passieren im kontemporären Ami-Kino nun wirklich nicht alle Tage.
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    (Christian Pogatetz)
    11.09.2024
    11:40 Uhr

The Brutalist

USA/UK/Gri 2024
Regie: Brady Corbet
AT-Start: 30.01.2025  (noch 117 Tage)