Exklusiv für Uncut
Nicht nur in Popkultur, in Filmen, in Medien, sondern auch in Gesundheit und in Bildung ist seit Jahrzehnten eine Tendenz festzumachen: eine höhere Sensibilität und Sichtbarkeit für mentale Erkrankungen, für psychische Abweichungen, für Einsamkeit und Depression. Eine Normalisierung dessen, was früher als „unnormal“ diffamiert wurde, ist im Gange. Das ist einerseits wichtig für den menschlichen Umgang mit Traumata und Störungen. Andererseits rutschen selbst diese heiklen Themen in die Sphären der Instagram-Selbstvermarktung – und sind im Kino längst erschöpft. Werke, die gesellschaftliche Phänomen auf das psychologische Individuum reduzieren, gibt es zuhauf. Nun schlägt Marvel mit dem 36. MCU-Streifen in diese Kerbe und mit „Thunderbolts“ verblüffend andere Töne an als üblich.
Von den Avengers ist zum Abschluss von Phase Fünf keine Spur mehr, die Erde sehnt sich nach einer neuen Heldentruppe. Wobei: Eigentlich sehnt sich vor allem die CIA-Direktorin nach Macht und veranstaltet Menschenexperimente für Superhelden. Doch die Doktorin Frankenstein vergisst Zweierlei: Erstens entsteht dabei immer auch Frankensteins Monster. Und zweitens gibt es sie noch, die sich solidarisch zusammenraufenden Leute für die mehr oder weniger gute Sache. In klassischer Superheldengruppen-Manier vereinen sich Florence Pugh, David Harbour und Sebastian Stan, die zunächst weder super noch heldenhaft sind und belastet von ihrer Vergangenheit. Auch die Dynamik untereinander bleibt blass. Wenig Witz, wenig Flow – das Teambuilding ist zäh.
In erster Linie besticht „Thunderbolts“ mit einer für Marvel-Verhältnisse passablen Optik. Martial Arts-Kämpfe aus der Vogelperspektive, ein melancholisches Grau auf der Farbpallette und – zur Freude aller - keine Multiversen, keine CGI-Overkill-Materialschlachten. Die Thunderbolts sind weder schlagfertige Guardians-Galaxy-Spaßvögel noch milliardenschweren Tony Starks, sondern irdische Menschen. Mit irdischen Problemen, traumatischen Erfahrungen und Zweifeln. Diese Nuancen erfahren keine allzu dramatischen Auswüchse – einzig Florence Pugh erhält charakterliche Schwere, die sie mit filmtragender Bravour präsentiert. Dennoch gibt diese Verschiebung dem Marvel-Brei einen neuen Geschmack. Wir sollten aber die Kirche im Dorf lassen und niemals die ewig gleichen Schablonen vergessen. Nur, weil Marvel hier und da den Hauch von Charaktertiefe andeutet und mit interessantem Bösewicht aufwartet, täuscht das nicht hinweg über erzählerische Längen. Auf ein Meisterwerk im Comic-Movie-Genre warten wir vergeblich.
Fazit: „Thunderbolts“ ist eine actiondosierte Psychotherapie - als würde Sigmund Freud mit Waffen und Martial Arts gegen depressive Dämonen seiner Patienten kämpfen. Hier wird das Es zur Kriegspartei, das Über-Ich zum Gegner. Damit folgt Marvel dem Trend aktueller (pseudo)psychologisierender Stoffe. Ob das dialogisch holprige, teils langatmige Mini-Psychogramm mit ruppigen Charakteren dem breiten Publikum und den Marvel-Puristen gefällt, bleibt abzuwarten. Die ausnahmsweise angenehme Visualität, die Prise Realismus und der unkonventionelle Antagonist, der sich jeder Heldenphysik entzieht, heben sich von der MCU-Einheitsmasse ab. Ja, „Thunderbolts“ ist sehenswert und einer der besseren Marvel-Streifen der letzten Jahre. Aber das sagt vor allem was über die letzten Jahre.