Bilder: The Walt Disney Company Fotos: The Walt Disney Company
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    Vergeblich gesucht: Meer-Wert und Mehrwert

    Exklusiv für Uncut
    Eine gigantische CGI-Mensch-Hybrid-Krake, die im Ozean-Suppentopf rührt. Kitschige Strandspaziergänge in exotischer Atmosphäre. Platte Dialoge aus dem Glückskeks-Einheitsbrei. Was haben diese Elemente gemein? Richtig! Sie sind Teil des Live-Action-Remakes „Arielle, die Meerjungfrau“. Ganz in postmoderner Tradition setzt Disney ihre Realfilmreihe bekannter Zeichentrickklassiker fort. Wo „Dschungelbuch“ und „Die Schöne und das Biest“ interessante Elemente beinhalten, reiht sich „Arielle“ bei schlechten Vertretern wie „Aladdin“, „Mulan“ oder „Dumbo“ ein. Ein Schelm, wer dabei denkt, Disney hätte statt cineastischem Anspruch nur Vermarktung, Zielgruppenausbau und Erlösoptimierung im Sinn. Wie konnte es bei „Arielle“ so weit kommen?

    Niemand hat gesagt, dass es leicht wäre, einen Unterwasser-Musical-Realfilm zu drehen. Disney war sich dessen bewusst und installierte mit Rob Marshall einen musicalerprobter Regisseur, der zuletzt den durchwachsenen „Mary Poppins Returns“, aber 2002 auch den sehenswerten „Chicago“ drehte und gar für einen Oscar nominiert wurde. An seine Seite gesellt sich niemand geringerer als „Hamilton“-Mastermind Lin-Manuel Miranda. Hauptsächlich als Produzent verantwortlich, wirkt er im Hintergrund zusammen mit Disney-Genius Alan Menken auch an der Musik. Menken hat die Songs für den Großteil der Zeichentrickklassiker aus der 90er-Disney-Renaissance geschrieben. Beide trauen sich für das Remake allerdings nichts Neues und vorab: das gilt für den ganzen Film.

    Die Crew gestaltet sich also vielversprechend. Als größte Schwierigkeit wurde die Unterwasser-Optik ausgemacht, die aber überraschenderweise nicht negativ ins Gewicht fällt. Die Kamerafahrten zu Beginn erinnern zwar an Windows95-Bildschirmschoner oder Werbefilmchen auf Fernsehgeräten im Elektrohandel. Wer ein CGI-Schauer-Trauerspiel à la „Cats“ erwartet, wird eines Besseren belehrt. Weder Flossen noch Tiere lassen Haare zu Berge stehen.

    Solide sind auch einige Schauspielleistungen. Das kontrovers diskutierte Spielfilmdebüt von Halle Bailey ist geglückt. Sie verkörpert Arielle mit großen neugierigen Augen und einer starken Stimme. Javier Bardem als Triton ist unterfordert, überzeugt dennoch. Obwohl er bisweilen einer Jesus-Ikonographie mit Dornenkrone ähnelt. Zumindest in Ansätzen humorvoll ist die Beziehung zwischen Sebastian und Scuttle - Hamiltons schnellster Rapper Daveed Diggs und Sängerin Awkwafina sind in guter Form. Beide rappen das einzige interessante Lied, den Scuttlebutt, bei dem Lin-Manuel Mirandas Potential deutlich hervorsticht. Leider eine vertane Chance, dieses nicht öfter zu nutzen. Ein kompletter Reinfall ist Melissa McCarthy als Antagonistin Ursula. Von Schauspiel und Gesang kann hier keine Rede sein.

    Während sich die erste Filmhälfte stark an den Zeichentrickfilm anlehnt und Arielles Liebe für die Menschenwelt, Tritons Strenge sowie die Rettung Erics durch Arielle zeigt, weitet das Remake die romantische Annäherung zwischen Eric und Arielle in der zweiten Hälfte deutlich aus. Hier wünscht man sich die inszenatorische Langeweile aus der ersten Hälfte zurück, in der teils die identischen Bilder aus dem 1989er-Original verwendet werden. Denn Romantik und Gefühle sucht man vergebens. Rosamunde Pilcher und Seifenopern sind nicht weit. Plötzlich sind wir in einem Groschenroman, in einem Urlaubsfilm, der vor Kitsch trieft. Eric liest Arielles Namen in den Sternen, sie fahren mit einer Kutsche durch die Dünen und besuchen ein exotisches Strandfest. Herzlich willkommen im Werbevideo eines Kuba-Urlaubes. Passend dazu muss das Publikum nie mitdenken. Dass wir nach der Verwandlung Ursulas in ihr Alter Ego Vanessa, mit der sie Eric für sich gewinnen möchte, nochmal Ursula und Vanessa im Spiegel sehen, ist ein großes Glück. Damit auch die letzte Person im Kinosaal versteht, was hier passiert. Alles auf dem Silbertablett serviert, eigenes Denken: nicht notwendig.

    Es wäre so viel mehr drin gewesen. Abgesehen von der Mutlosigkeit im Hinblick auf die laue Aufwärmung alter Lieder auch im Inhalt: Eine feministische Aktualisierung, Aufbrechen der Heteronormativität, charakterliche Tiefe, ein Plädoyer für den Schutz der Meere, gegen Überfischung. Nichts. Das Remake spult die bekannte Leier ab, traut sich nichts. Wie auf einem Reißbrett konstruiert Disney einen Film, der sowohl Fans zufriedenstellen als auch neue Zielgruppen finden soll, letztlich aber beides verliert. Die unplausiblen Motive und Logiklöcher machen das Original schon schwerfällig, in der Verfilmung mit echten Menschen werden sie zur Farce.

    Fazit: Generische Effekte, kitschig wie eine Urlaubswerbung, altbacken, dramaturgisch mutlos, musikalisch unkreativ, gesellschaftlich uninteressant, mit 135 Minuten langatmig, inszeniert auf dem Niveau eines sonntäglichen TV-Films. „Arielle“ überzeugt auf kaum einer Ebene – bis auf wenige Gesangseinlagen und ein gutes Schauspieldebüt. Ein Film ohne Mehr- oder Meerwert, der sich Hoffnungen auf Goldene Himbeeren machen kann.
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    (André Masannek)
    23.05.2023
    20:35 Uhr
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