Filmkritik zu Walk Up

Bilder: Filmverleih Fotos: Filmverleih
  • Bewertung

    Das Leben wie es ist

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Hong Sang-soos Präzision in seiner Dramaturgie und der Minimalismus seiner Kamera sprechen grundsätzlich für sich. In „Walk Up“ zeigt sich Sang-soos Gedankenrichtung erneut.
    Dabei bedient er sich seiner bekannten, minimalistischen, stark gesellschaftsreflexiven Beobachtung. Absichtlich vermeidet er klischeehafte Strukturen und Banalitäten und bleibt seinem feinen, detaillierten Stil treu.

    Die Geschichte beginnt als Byungsoo, ein Regisseur, mit seiner Tochter Jeongsu, einer anstrebenden Innenarchitektin, zu einer alten Bekannten fährt, die in dem Berufsfeld etabliert ist und die beiden einander vorstellt. Byungsoo und seine Tochter erhalten eine Tour der Hausbesitzerin durch das Gebäude, in dem sich ein Restaurant und Kochstudio in den ersten beiden Stöcken, ihr Büro im Keller und ein Künstler-Atelier im Dachgeschoss befinden. Die Drei unterhalten sich und trinken viel Wein bis Byungsoo einen Anruf bekommt und sich verabschiedet. Bei seiner Rückkehr, ist es dasselbe Geschehen und derselbe Ort, aber eine andere Zeit und seine alte Freundin lädt ihn diesmal in den zweiten Stock ein.

    Simple Alltagsgespräche und realistische Auseinandersetzungen der kleinen Personenkonstellation bilden das Zentrum des Films. Durch die Verwendung eines einzigen Schauplatzes - nämlich das Wohngebäude und sein Stiegenhaus - wirkt „Walk Up“ wie ein filmisch inszeniertes Kammerspiel.

    Die zentralen Figuren im Film sind so komponiert, dass sie gleichzeitig über Eigenschaften verfügen, die sie verbinden, während sich markante Differenzen anfangs im Hintergrund halten und stufenweise zu Feindschaften anwachsen. Alkohol - wie auch in fast jedem von Sang-soos Filmen - könnte als scharfe Kante der Story angesehen werden, und bewirkt in seinen übersteigerten Ausprägungen einen Wechsel in der Figurenentwicklung, der die Charaktere an ihren empfindlichsten Punkten trifft. So wenden sich nüchterne Gespräche, bei denen Wahrheiten verheimlicht werden, zu Besäufnissen, die Wahrheiten enthüllen.

    Typisch für den Südkoreaner, allerdings untypisch für das moderne, marktorientierte Entertainment-Kino ist Sang-soos äußerst sparsamer Einsatz der Kamera. Die meisten seiner Szenen bestehen oft nur aus einer Einstellung und beginnen bzw. enden mit einem langsamen Zoom auf die Figuren in Schlüsselmomenten.

    Nüchternheit als Dramaturgie spiegelt sich auch bei seinem höchst reduzierten Gebrauch von Filmmusik wider, sowie bei der Gliederung von Szenen, bei denen er die gewünschte Eintönigkeit, Langatmigkeit und das Verlorene punktgenau einflechtet.

    Die Sichtbarkeit der vermeidbaren Mängel im Leben der Figuren gleichen einem Lebensmodell mit wenig affektiver Bedeutung. Das Publikum pendelt zwischen emotionaler Teilnahme und Teilnahmslosigkeit. Die fehlende Identifizierung mit den Protagonisten, obwohl ihre Lebenssituation nicht weit über der bloßen Existenz ist, führt zu dem Ergebnis eines lediglich statischen Bildnisses des Leidens.

    In einigen Szenen widerspricht der gesprächsreiche Schwarz-Weiß-Film der Dynamik des Leinwanddialogs, da der Zweck so mancher Konversation fragwürdig ist und die Richtung der Veränderung eines Verhaltens nicht definiert ist. Teilweise fällt es schwer, durch den Text des Dialogs hindurch die Wahrheit zu sehen, die hinter der Stimme, den Augen, den Gesten des Lebens vibriert.

    Themen der Erinnerung, Tagträume und Betrunkenheit erschweren dem Publikum, genügend über die Protagonisten und ihre Welt zu wissen, weshalb die eigentlich bedeutungsvolle Seele des Films eher als Dekoration scheint und im Publikum erst zu spät umfassende Reaktionen hervorruft. Genauso wie das Enträtseln der bestehenden Vergangenheit zwischen dem Regisseur und der Innenarchitektin, wird das Entschlüsseln der verwinkelten Architektur des Gebäudes dem Zuschauer überlassen.

    In „Walk Up“ lässt sich das Publikum auf Hong Sang-soos unverwechselbaren Perspektivismus ein, dessen eigene Grammatik sich von den anderen künstlerischen, wie kommerziellen Erscheinungsformen unterscheidet.
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    12.11.2022
    12:41 Uhr
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