Bilder: A24, Pandafilm Fotos: A24, Pandafilm
  • Bewertung

    Mensch oder Monster?

    Exklusiv für Uncut von den Filmfestspielen in Venedig
    „Steinzeit Jr.“, „George aus dem Dschungel“, „Die Mumie“: im Kino der 1990er- und frühen 2000er-Jahre ist man schwer um die Filmografie von Brendan Fraser herumgekommen. Lange galt der Amerikaner als einer der bekanntesten und profitabelsten Gesichter der Filmindustrie. Als 'leading man' zierte er die Poster namhafter Kassenschlager an und war beim breiten Publikum gerne gesehen. Doch dann schien sein Stern, ganz wie aus dem Nichts, verglommen. Der frühere Superstar zog sich schrittweite aus dem Rampenlicht zurück, nur mehr sporadisch tauchte er in Filmrollen auf. Wie sich später herausstellen sollte, war das alles andere als eine persönliche Entscheidung des Schauspielers. Vor wenigen Jahren gab Fraser bekannt, in den 2000er-Jahren von einem Produzenten sexuell belästigt worden zu sein. Als er versuchte, den Vorfall zu melden, wurde er von Hollywood auf die schwarze Liste gesetzt und eiskalt fallen gelassen.

    Jetzt wird der ehemals gefeierte Filmstar ausgerechnet von der Industrie, die ihn damals verstoßen und im Stich gelassen hatte, mit offenen Armen zurück empfangen. Welch blanke Ironie! Nach einzelnen Versuchen, mit kleinen Film- und Seriennebenrollen wieder im Fuß zu fassen, steht mutmaßlich nun die ganz große Rückkehr bevor - und das unter der Regie einer respektablen Größe. Kein anderer als Darren Aronofsky (u.a.: „Requiem For A Dream“, „Black Swan“) hat Fraser für die Hauptrolle in seinem neuen Projekt engagiert. Mit „The Wrestler“ hatte der renommierte Filmemacher bereits dem abgehalfterten Mickey Rourke zu einem furiosen (wenn auch kurz andauernden) Comeback verholfen - alle Zeichen deuten darauf hin, dass er Fraser mit „The Whale“ dieselbe Wohltat erweisen wird.

    In der ergreifenden Adaption des gleichnamigen Bühnenstücks von Samuel D. Hunter ist der „Die Mumie“-Star kaum mehr wiederzuerkennen. Samt entstellendem Make-Up und Fatsuit verkörpert er Charlie, einen schwer übergewichtigen Mann am Rande des Abgrunds. Nach dem Tod seines Geliebten hat sich der Lehrer aus der Mitte der Gesellschaft zurückgezogen und unterrichtet nur mehr online - die Webcam bleibt ausgeschalten, da er sich für sein Äußeres schämt. Der einzige Zugang zur Außenwelt: die befreundete Krankenschwester Liz (Hong Chau: wundervoll), die sich tagtäglich um ihn kümmert. Trotz körperlicher Einschränkungen, wird ihm durch die Hilfe der Pflegerin ein halbwegs bewältigbarer Alltag ermöglicht. Als Charlies gesundheitliche Probleme unausweichlich werden und er quasi mit einem Bein im Grabe steht, will er Wiedergutmachungen leisten. Einst hatte er Frau und Kind verlassen, um eine Beziehung mit einem Mann anzufangen. Nun versucht er zu reparieren, was noch zu reparieren geht. Besonders wichtig ist ihm das Verhältnis zur mürrischen Tochter Ellie („Stranger Things“-Star Sadie Sink). Diese nutzt die Gutmütigkeit ihres Vaters doch nur für eigene Zwecke aus. Der Literaturprofessor ist aber fest davon überzeugt, dass in jedem Menschen Gutes steckt.

    Die Filme von Darren Aronofsky zeichnen sich für gewöhnlich durch inhaltliche wie auch stilistische Radikalität aus. Situationen werden überdramatisiert, ein überbordender Schockfaktor wirkt omnipräsent. Umso überraschender daher, wie vergleichsweise zurückhaltend und menschlich sich das neueste Werk anfühlt – und das ist auch gut so. Für „The Whale“ hat das Enfant terrible seine Misanthropie gegen eine Prise Hoffnung getauscht. Wir folgen jemandem, der dem Tode nahesteht, während dieser am Glaube ans Gute im Menschen festhält. Aronofsky wäre nicht Aronofsky, wenn er nicht trotzdem schmerzhafte Einblicke in menschliche Abgründe gewähren würde. Selbst eine so hoffnungsvolle Figur wie Charlie wird hier vor vollendete Tatsachen gestellt und am Rande des kompletten Zusammenbruchs befördert. Zwischen Verzweiflung und Tristesse versucht sich der fettleibige Lehrer durch seine letzten Lebenstage zu kämpfen. Findet er Halt bei Familie und Freunden? Oder muss er sich vielleicht sogar dem religiösen Glaube zuwenden? (Dieser wird hier im Form eines jungen Missionaren (Ty Simpkins) symbolisiert.) Den ewigen Kampf zwischen Zynismus und Optimismus, Apathie und Empathie präsentiert Aronofsky in gewohnt überdramatisierter Aufmachung – begleitet von einem brummenden Score und flotten Schnitten. Zur Abwechslung behält gegen Ende aber diesmal die Hoffnung die Oberhand.

    Eine eigensinnige Prämisse wie diese hätte in den falschen Händen nach hinten losgehen können. Dass der Film zu keiner Sekunde ins Banale rutscht und selbst in seinen sentimatelsten Momenten aufrichtig bleibt, ist letztlich der bemerkenswerten Darbietung seines Hauptdarstellers zu verdanken. Mit einer großen Portion Mitgefühl nähert sich Brendan Fraser der komplexen Figur an. Charlie mag klar der Sympathieträger sein, doch trotzdem sehen ihn manche Leute in seinem Leben als Monster – und das nicht wegen seines optischen Auftretens, sondern vergangener Taten. Fraser stellt den Konflikt, den sein Protagonist auszubaden hat, glaubhaft und nachvollziehbar dar – gerade in den intimeren, ruhigeren Momenten scheint eine unvergleichliche Wärme durch seine stechend grünen Augen. Es ist die bislang größte Darbietung in der Karriere des Schauspielers. Eine Performance, die selbst all jene, die Fraser für seine frühere Rollenwahl belächelt und verkannt hatten, vom Gegenteil überzeugen sollte. Eine Performance, die jede Facette des menschlichen Daseins abdeckt. Eine Performance, die dem Mimen womöglich noch einen großen Preisregen bescheren wird.

    „The Whale“ ist ein effektiv komponiertes Stück Gefühlskino und der wohl ergreifendste, zärtlichste und nahbarste Film, den Darren Aronofsky seit einiger Zeit gedreht hat. Ein tiefberührender Appell an die Menschlichkeit. Eine zermürbende Auseinandersetzung mit Glaube und Religion. Ein außergewöhnliches Comeback für ein außergewöhnliches Talent.
    1705313743158_ee743960d9.jpg
    (Christian Pogatetz)
    06.09.2022
    09:02 Uhr