Filmkritik zu Tár

Bilder: Universal Pictures International Fotos: Universal Pictures International
  • Bewertung

    Macht, Missbrauch und Maestro

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2023
    Woody Allen, Joanne K. Rowling, Roman Polanski, Ulrich Seidl. Von mindestens diskutabel bis zu höchst problematisch und nachgewiesen – all diesen an großartigen Werken beteiligten Personen sind kontroverse Handlungen und Aussagen gemein. Damit stehen sie sinnbildlich für die ewig schwerwiegende Frage, ob Künstler:innen mit ihren Ansichten und Ausrichtungen von ihrem Schaffen zu trennen sind. Können Harry-Potter-Inhalte konsumiert werden, ohne die transfeindlichen Aussagen Joanne K. Rowlings im Hinterkopf zu haben? Stören die Missbrauchsvorwürfe gegen Woody Allen beim Anschauen des Klassikers „Der Stadtneurotiker“?

    Dieser brandaktuellen Thematik widmet sich das psychologische Drama „Tár“ von Todd Field, dessen erste Regiearbeit seit 2006. Wir folgen dem Orchester des Lebens der namensgebenden Titelfigur Lydia Tár, eine der weltbesten (fiktiven) Dirigentinnen, und ihrem Treiben zwischen Podiumsdebatten, Seminaren, dem Familienleben (Nina Hoss spielt ihre Lebensgefährtin bravourös) und dem Aufbau ihres Orchesters. Während alteingesessene Kapellmeister vor der Entlassung stehen und die Assistentin sich endlich den Karrieresprung erhofft, wird die Cello-Stelle neu besetzt und Lydia mit Folgen sexuellen Machtmissbrauchs aus früherer Orchesterzusammensetzung konfrontiert.

    Fast schon dokumentarisch, mehrfach verglichen mit Michael Haneke, präsentiert uns Todd Field die Upper Class mit hygienischer Bildsprache und sachlich-formellem Szenenbild, u.a. gedreht in der Dresdner Philharmonie. Ästhetisch gilt die Wertschätzung insbesondere dem deutschen Kameramann Florian Hoffmeister. Dem Stil geschuldet bleiben einige Figuren, insbesondere Lydia, vermehrt kalt und distanziert. Einerseits eine Zurschaustellung des kontemplativen Perfektionismus, in dem die reine berufliche Freude hintenansteht und keine Fehler geduldet werden, andererseits fällt die Identifikation mit unsympathisch-narzisstischen Figuren nicht leicht. Eindringlich und überwältigend porträtiert Cate Blanchett die Dirigentin. Dass sie sich seit langem als eine der profiliertesten Charakterdarstellerinnen etabliert hat, ist kein Geheimnis; ihre Klaviatur der hochmütig-selbstbewussten Lydia stellt viel in den Schatten. Ihr Mitwirken war laut Field notwendige Bedingung für die Produktion des Films, sie lernte Piano, Dirigieren und nicht zuletzt Deutsch für ihre Rolle.

    Beispielhaft für Stil des Films und Lydias fast tyrannischen Charakter steht ein Dialog im ersten Filmdrittel, in dem sie sich gegen die Ablehnung eines jungen BIPoC stellt, sich mit Johann Sebastian Bach auseinanderzusetzen. Sie wehrt sich gegen die Vermengung der Identität Bachs mit seinem Wirken und betreibt Täter-Opfer-Umkehr, denunziert ihr Gegenüber: „The architecture of your soul seems to be social media“. Der Film verurteilt diese Ignoranz identitätspolitischer Inhalte, indem der junge Schüler entgegen dem Konformitätsdruck den Raum verlässt. Diese bemerkenswerte Szene wurde in einem Take gedreht.

    Begeben wir uns zu Filmbeginn mit Lydia taktsicher in die Öffentlichkeit, wohnen Restaurantbesuchen und Interviews in langen, prätentiösen Dialogen bei, tauchen wir mit zunehmenden Spieldauer ins Private ab. Dann zentriert sich die Handlung um Lydias Innerlichkeit und hinterfragt nicht nur ihre Integrität. Der anfangs von ihr propagierten Trennung zwischen Künstler:in und Werk stehen ihre persönlichen Neigungen, ihre subjektiven Favorisierungen entgegen. Sie hat ihre „Little Favors“, was gezeigt wird, wenn eine Audition hinter einer undurchsichtigen Fassade durchgeführt wird, am Ende jedoch die Schuhe einer teilnehmenden Musikerin kurz aufblitzen und Lydia eine Notiz wegen dieses optischen Eindrucks durchstreicht. Zerrissen ist der Schein der Objektivität. Der Film besticht durch Klarheit und Prägnanz in genau diesen Sequenzen – und dekonstruiert sich unmittelbar selbst. Wohldosierte Kontrapunkte zum Dokumentarstil, kurze verfremdete Ausflüge voller Paranoia und Wahnvorstellungen holen den systemischen Machtmissbrauch aus der Vergangenheit in die Gegenwart und dringen tief in Lydias psychische Labilität. Aus einem straff organisierten werden mehrere lose Handlungsfäden voller Manie, umgesetzt durch Parallelmontagen und veränderte Schnittrhythmen, eine hervorragende Arbeit der österreichischen Editorin Monika Willi. Auffallend häufige Spiegelbilder, intensive Close-Ups sowie die schwarz-weiße Farbgebung demonstrieren das Thema der Identität, der Rollen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. Dass Lydia sich als homosexuelle Frau in dieser maskulinen Welt behauptet hat, bietet Anstoß zu weiteren Diskursen.

    „Tàr“ ist nüchterne Dramatik, ein präzises, kühles Psychogramm, zugleich unnahbar und doch intim. Die zunächst der Authentizität verpflichtete Geschichte über westlich-elitären Kulturbetrieb öffnet sich dank präziser Inszenierung mit intelligentem Buch, ausblendenden Schnitten und auslassender Kamera vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten und zeigt die gnadenlosen Takte eines verfolgten Unterbewusstseins. Blanchett trägt die Last des zentralen Konflikts um die Trennung zwischen Künstler:in und Werk meisterhaft auf ihren Schultern, eine beeindruckende Leistung in einem cineastisch wertvoll komponierten Film, der jedoch wegen seiner markanten Figuren vermutlich Schwierigkeiten hat, beim großen Publikum Anklang zu finden.
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    (André Masannek)
    24.02.2023
    09:00 Uhr
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