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  • Bewertung

    Lang lebe der neue Sex

    Exklusiv für Uncut
    David Cronenberg gilt als einer der Urväter des Body-Horror-Kinos - ein wahrer Gigant, der die Genre-Landschaft mit subversiven Beiträgen wie „Videodrome“, „The Fly“ oder „Crash“ massiv mitprägte. In den letzten Jahren war es um das körperfaszinierte Genius vergleichsweise ruhig geblieben, unterdessen durfte sein eigener Sohn Brandon unter Beweis stellen, dass Regietalent in manchen Fällen wohl doch erblich übertragen werden kann. Nach einer achtjährigen Verschnaufpause meldete sich unlängst aber auch Altmeister David Cronenberg höchstpersönlich wieder filmisch zu Wort. Und dazu noch mit einem wahren Knaller: mit „Crimes of the Future" legte der einflussreiche Filmemacher nämlich seinen ersten Horrorfilm seit über 20 Jahren vor. Im neuen Jahrtausend hatte er sich mit spannenden Werken á la „History of Violence“ oder „Eastern Promises“ bislang erfolgreich an anderen Genres probiert, nun ist der heute 79-Jährige endlich zu seinen Body-Horror-Wurzeln zurückgekehrt.

    In einer undefinierten Zukunft haben technologische und evolutionäre Errungenschaften die Gesellschaft, wie wir sie einst kannten, in ihren Grundfesten erschüttert. Veränderungen, die unvermeidbare Konsequenzen nach sich zogen. Klassischer Schmerz existiert in dieser genmutierten und auf Maschinen angewiesenen Welt gar nicht mehr, genauso wenig Lust und Begierde. Die körperlichen Mutationen haben zudem in manchen Menschen neue Fähigkeiten erweckt, so unter anderem auch in Saul Tenser (Viggo Mortensen), der seine eigenen Organe mittels einer selbstinduzierten Metamorphose erweitern kann. Eine Superkraft, die ihm zumindest beruflich zu Nutze kommt. Mithilfe seiner Frau, der ehemaligen Unfallchirurgin Caprice (Léa Seydoux), werden ihm diese Zusatzorgane in Form von abstrakter Performance-Art vor staunendem Live-Publikum entnommen. Für die Kunst muss wie so oft gelitten werden. Sexuelle Stimulation hat indes einen kuriosen Ersatz gefunden: Operationen. „Surgery is the new sex“, behauptet die von Kristen Stewart herrlich überzogen dargestellte Neo-Bürokratin Timlin, als diese sich am verwundeten Corpus der Hauptfigur abtastet. In einer schier schmerzlosen Welt kann sexuelle Erfüllung nur mehr mittels gewaltvoller Penetration simuliert werden. Während Tenser immer mehr ins Visier der Behörden gerät, bahnt sich im Hintergrund eine mysteriöse Gruppe an, die sehnsüchtig der nächsten Evolutionsphase entgegenfiebert.

    Begrifflichkeiten wie „einzigartig" oder „außergewöhnlich“ werden im künstlerischen Diskurs häufig in den Raum geworfen, selten aber steckt in ihnen so viel Wahrheitsgehalt, wie es hier der Fall ist. Cronenberg erschafft eine postapokalyptische Welt, die in dieser phantasmagorischen Aufmachung keinem bisher dagewesenen Vorbild ähnelt. Durch das beeindruckend gestaltete Szenenbild und dem kunstvoll-präzise eingesetzten Body-Horror ergibt sich ein gespenstischer, futuristischer Subkosmos, der sich gleichermaßen greifbar und doch so fern jeglicher Realität anfühlt. Zuschauer*innen werden förmlich mit ästhetischen Eindrücken, subversiven Ideen und betörenden Klängen zugedröhnt - das Seherlebnis gleicht nicht umsonst einem Trip. Aufgrund dieser Fülle an Einfällen und Genre-Spielereien mag diese körper- und blutbetonte Zeitreise für weite Teile des Publikums eher überfordernd als zugänglich sein. Wer sich jedoch auf diese sperrige, in sich geschlossen aber stimmige Zukunftsvision einlassen kann, wird gar nicht mehr aus dem Staunen, Lachen, Gruseln und Ekeln herauskommen. Und letzen Endes sind es genau eigensinnige, verkopfte, seltsam erotische und auf den ersten Blick nicht zuordenbare Werke wie „Crimes of the Future“, die als Kultklassiker in die Annalen der Filmgeschichte eingehen werden. Lang lebe der neue Sex!
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    (Christian Pogatetz)
    10.01.2023
    18:00 Uhr