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    Wir könnten genauso gut tot sein

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2022
    Eine Kleinfamilie läuft mit Äxten bewaffnet panisch durch einen Wald, die Gesichter von Angst verzerrt, unterlegt wird die Szene von einem Chor, der das epische Ukrainische Lied Shchedryk (auch bekannt als Carol of the Bells) singt. Schließlich erreichen sie einen Zaun, der sie von einem ausladenden Grundstück trennt, das ein großes, allein in der Landschaft stehendes Hochhaus umgibt.

    In der nächsten Einstellung unterziehen sie sich einem Bewerbungsverfahren, um in die Hausgemeinschaft aufgenommen zu werden. Durch die Räumlichkeiten werden sie geführt von Anna Wilczyńska (Ioana Iacob), zu deren Job auch gehört, über die Sicherheit in dem Hochhauskosmos zu wachen.

    Nach und nach erfährt man immer mehr Details über die strengen Regeln und die Eigenheiten des Lebens an diesem seltsamen Ort ohne jedoch einen konkreten Einblick die ‚draußen‘ herrschende Gefahr zu erlangen. Es herrscht absolute Nachtruhe, Getrunken wird nur in der Wohnung und abweichendes Verhalten wird sanktioniert, indem man für eine Nacht vom Haus ausgeschlossen wird. So ergeht es etwa dem Hausmeister, der im Suff die Gemeinschaft für das Verschwinden seines Hundes Willie verantwortlich macht.

    Annas Tochter Iris (Pola Geiger) verbarrikadiert sich dauerhaft im Badezimmer der Wohnung, da sie überzeugt davon ist, den Bösen Blick zu haben und sich ihre finsteren Gedanken, wie zum Beispiel der Wunsch, Willie möge sterben, Realität werden. Angst scheint überhaupt der zentrale Motor der gesellschaftlichen Entwicklung des Hochhauses zu sein.

    Natalia Sinelnikova gelingt mit ihrem Langfilmdebüt eine herrliche Satire über gängige diskursive Muster unserer Zeit. Sie zeichnet in einem skurrilen Setting nach, wie Ängste rationales Denken und Handeln im Nu unterminieren können. Die Atmosphäre des Films erinnert bisweilen an den ähnlich abstrusen The Lobster (Yorgos Lanthimos). Es sind die präzise komponierten Aufnahmen der Hochhauskulisse, die hervorragende schauspielerische Leistung Iacobs und Geigers die geschickte, zurückhaltende Informationsvergabe, die eine beklemmendes Grundgefühl schaffen. Und doch ist „Wir könnten genauso gut tot sein“ ein unterhaltsamer, streckenweise sogar ziemlich witziger Film.
    (Felix Geiser)
    04.03.2022
    19:13 Uhr