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    Abschied von der Mutter

    Exklusiv für Uncut von der Berlinale 2022
    „Die Verwandlung meiner Mutter in eine lebende Leiche ist abgeschlossen.“ Juliane (Birte Schnöink) ist dazu verdammt, ihre Mutter sterben zu sehen. Kerstin (Elsie de Brauw), erst 64 Jahre alt und viel zu jung, um sich von der Welt zu trennen, kämpft mit einer undefinierten Krankheit. Einer, die ihr nicht nur die Freiheit genommen, sondern sie auch in den Käfig eines nicht reagierenden Körpers gesperrt hat. Kerstin will es beenden. Aber Euthanasie ist in Deutschland immer noch verboten.

    Die deutsche Regisseurin Jessica Krummacher verarbeitet in ihrem zweiten Spielfilm die persönliche Erfahrung des Abschieds eines geliebten Menschen ohne gesellschaftliche Wünsche. Todeswünsche angesichts eines nicht lebenswerten Lebens sind nicht zu verurteilen. Warum ist der Schmerz, fragt sich Juliane. Da Kerstin in kein Hospiz aufgenommen wird, muss sie ihren Tod in ihrem katholischen Pflegeheim erzwingen.

    Die Mitarbeiter vor Ort sympathisieren mit ihr. „Nicht ich als Arzt, sondern die Patientin und ihr Umfeld werden ihren letzten Weg gestalten“, versichert Kerstins Hausarzt (Christian Löber), während er immer wieder ihre Morphinpflaster wechselt. Kerstin wird diese Schmerzmittel brauchen. Mit der wenigen geistigen Klarheit, die ihr noch geblieben ist, hat sie beschlossen, zu verhungern. Einige wenige widerstreben dieser Entscheidung. Sei es wegen der persönlichen Wohlfühlzone oder der religiösen Überzeugung. „Das kann man nicht einfach so entscheiden. Man stirbt nicht einfach so. Gott entscheidet“, flüstert ihr etwa eine Krankenschwester leise ins Ohr.

    Krummacher erzählt diese emotionale Geschichte einer Mutter-Tochter-Bindung in ihren letzten Tagen, indem sie Unbehagen und Entfremdung hervorhebt. Juliane wird oft in der am Rand des Bildes gerahmt. Verloren im Moment, in der Situation. Die vorwiegend eingesetzten statischen Weitwinkelaufnahmen wirken distanziert, leer. Eine Leere, die sich von allen Seiten einschleicht. Die wenigen Momente, die Kerstins Entscheidung offen in Frage stellen, sind als konfrontative symmetrische Einstellungen angelegt. Der klinisch sterile Hintergrund lässt die Charaktere mit dem Hintergrund verschmelzen. Ihre Botschaft absichtlich beim Empfänger verloren.

    Krummacher scheut sich auch nicht davor, religiöse Ikonografie anzuwenden. Mit der entblößten Mutter in ihrem Bett, ihrer halb knienden Tochter an ihrer Seite und dem Licht der Lampe über ihnen ist die Quelle der Inspiration nicht schwer zu erraten. Aber während Krummacher auf den unmenschlichen Status quo hinweist, ist ihre Geschichte in erster Linie die Geschichte über die Reise einer Tochter, die sich darauf vorbereitet, ihre Mutter gehen zu lassen. Ein innerer Konflikt, an der ersten Bezugsperson festzuhalten und ihr jetzt die nötige Fürsorge zu geben.

    Ein Großteil des einschüchternden Stils des Films ist de Brauws beeindruckendem Schauspiel zu verdanken. Während Kerstin meist ans Bett gefesselt ist, bietet de Brauw eine absolute Power-Performance. Eine Frau, die in einem versagenden Körper gefangen ist, ihr unzusammenhängendes Gemurmel, ihre tränenreichen Erinnerungen und die Angst vor dem, was nach dem Tod kommen könnte, sind eine herzzerreißende Reise, die man miterleben muss. Die Auswirkungen des Hungers, der teigige Körper mit tiefen Ringen unter den Augen und blauen Flecken sind schwer zu ertragen. Dem gegenüber stehen die absichtlich distanzierten Darbietungen der Nebendarsteller. Das emotionale Trauma, jemanden sterben zu sehen, ist zu groß, sie ziehen ihre Abwehr hoch.

    Während Krummacher es versteht, sich in diesem schwierigen Thema zurechtzufinden, verliert sich ihr Blick zu oft an der Peripherie. „Der Tod meiner Mutter“ ist mit 135 Minuten einfach zu lang. Juliane ist ein in sich wiederholender Zyklus von Trauer im Wald, Nahrungsaufnahme oder Spaziergängen auf dem Gelände des Pflegeheims. Ein Beispiel dafür ist ein ausgedehntes Abendessen mit Freunden in einem der Lieblingsrestaurants von Altkanzler Helmut Kohl.

    Als Juliane Kerstin immer wieder Briefe zwischen dem deutschen Dramatiker Bertold Brecht und seiner Frau Helen Weigel vorliest, zeichnet sich ein Muster ab. Als offensichtliche Symbolik dient Weigel, die das Zentrum von Brechts Kosmos war und sich aus ihrer Abhängigkeit von ihm befreien musste. Gleiches gilt für Brechts und Simone de Beauvoirs Gedanken zum Kommunismus in der westlichen Welt: „Er kann nur überleben, wenn er sich selbst neu bewertet“. Ob sich das auf Deutschlands Haltung zur Euthanasie bezieht oder auf Julianes Bedürfnis, eine mutterfreie Identität zu schmieden, bleibt dem Betrachter überlassen.
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    (Susanne Gottlieb)
    03.12.2022
    12:56 Uhr
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