Filmkritik zu Drei Winter

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    What Is Love?

    Exklusiv für Uncut von der ViENNALE
    Auf der Berlinale mit einer lobenden Erwähnung gewürdigt und von der Schweiz als Beitrag zum Wettbewerb um den besten internationalen Film bei den Oscars 2023 eingereicht, ist „Drii Winter“ eine dramatische Umkehrung des Heimatfilms als Tragödie einer Beziehung.

    Anna (Michèle Brand) lebt mit ihrer jungen Tochter in einem hochgelegenen Bergdorf in den Schweizer Alpen und arbeitet als Kellnerin und Briefträgerin. Ihr Freund Marco (Simon Wisler) kommt aus dem Flachland und hilft den Bergbauern bei der Arbeit. Aufgrund seiner Herkunft und seiner Wortkargheit ist er ein Außenseiter in der kleinen Gemeinschaft, wird aber wegen seiner Arbeitskraft geschätzt. Als ein Tumor in Marcos Gehirn nach und nach zu Veränderungen an seinem Charakter führt und seine Impulskontrolle beeinträchtigt, hat dies schwerwiegende Konsequenzen für die Hauptfiguren. Schließlich kommt es durch einen Akt Marcos zu einer Zäsur in deren Beziehung und im Film.

    Regisseur und Drehbuchautor Michael Koch entwickelt eine eindrucksvolle Bildsprache und erzählt langsam, aber intensiv seine Geschichte. Die Naturaufnahmen der Schweizer Alpen sind streng komponiert, oft sehr statisch und fast gemäldehaft. Ebenso eindrucksvoll sind die Nah- und Großaufnahmen der Personen. Das schmale Bildformat betont die Körper und Gesichter der Figuren, wodurch Mimik und Gestik in dem dialogarmen Film umso mehr zur Geltung kommen.

    Die Charaktere spiegeln die Kargheit der Landschaft und die Stummheit der Tiere wider. Einerseits ist da Marcos Unvermögen, sich auszudrücken; er kann nicht sagen, was er in Bezug auf seine Krankheit und seine Beziehung zu Anna fühlt. „Sag doch irgendwas“, schreit diese schließlich verzweifelt im schweizer Dialekt. Gleichsam scheinen auch Annas Stoizismus und ihre Stärke von ihrer Umgebung geprägt. So wie man sich im Bergdorf mit der unberechenbaren und unbeeinflussbaren Natur abfinden muss, begegnet Anna der unerwarteten menschlichen Katastrophe, die sich vor ihr abspielt.

    Die schauspielerischen Leistungen und sind umso bemerkenswerter als es sich ausschließlich um Laienschauspieler handelt. Darüber hinaus sind alle Darsteller außer Michele Brand tatsächlich Bewohner ähnlicher Schweizer Bergdörfer. So erhält bei Darstellung der alltäglichen Arbeit eine starke Authentizität. Gleichzeitig ist es erstaunlich, wie natürlich die Darstellungen der dialogreicheren Szenen wirken. Dabei variiert die Inszenierung durchaus: als in einer überzeichneten Gesprächsszene im Gasthaus die Kamera von Gesicht zu Gesicht schwenkt und sich die Charaktere der Reihe nach mit belanglosen Aussagen zu Wort melden entsteht eine subtile Komik. Die Szenen später im Film, die von Konflikt und Verlusts handeln, sind hingegen herzzerreißend und absolut überzeugend.

    Formal nimmt der Film Bezug and die griechische Tragödie. Ein Chor unterbricht immer wieder für ein paar Minuten die Haupthandlung, unterteilt den Film gewissermaßen in Kapitel und kommentiert das Geschehen. Interessant ist dabei die musikalische Umsetzung der dafür verwendeten traditionellen Volkstexte, für die Michael Koch und sein Bruder Tobias Koch verantwortlich sind. Durch die harmonisch sehr ungewöhnliche Umsetzung erlangen die Texte eine neue Dimension und wirken auch abgesehen von den Texten auf die Stimmung des Films. Neben diesen Chorstücken und der symbolischen Verwendung des Songs „What Is Love“, den die Protagonisten in verschiedenen Momenten der Handlung hören, wird komplett auf Filmmusik verzichtet. Auch dies trägt zur nüchternen, naturalistischen Stimmung des Films bei. So wird „Drii Winter“ durch seine Bildsprache, die musikalische und narrative Konzeption und die starken Schauspielleistungen zu einem beklemmenden und ergreifenden Charakterdrama.
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    (David Schrittwieser)
    13.11.2022
    22:22 Uhr