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  • Bewertung

    The Good, the Bad and John Wick

    Exklusiv für Uncut
    Siebenundsiebzig. Einhundertachtundzwanzig. Vierundneunzig. Insgesamt 299 Personen hat John Wick in den ersten drei Teilen der gleichnamigen Reihe auf dem Gewissen. Was nach Sinnlosigkeit und Blutrausch klingt, hat sich jedoch als äußerst erfolgreiches Kult-Phänomen etabliert. Wieso sticht die John-Wick-Orgie aus dem Action-One-Man-Army-Einheitsbrei heraus (wir denken an Transporter, Taken, Rambo, Stirb Langsam)? Wieso wird die Reihe mit jedem Teil besser? Wieso wird sie von Publikum und von der Kritik gleichermaßen geschätzt – und das bei verhältnismäßig geringem Budget? Nun, eine fast einzigartige Kontinuität auf dem Regiestuhl (Chad Stahelski inszenierte alle bisherigen Filme und auch das vierte Kapitel), ein stilistisch audiovisueller Sog, dem man sich schwerlich entziehen kann, meisterhaft orchestrierte Action-Sequenzen und eine mythische interessante Killer-Parallelwelt mit religiöser Symbolik machen John Wick zu etwas Besonderem. Bleibt nur die Frage, ob das vierte Kapitel mithalten kann?

    Und wie es das kann! Nach 2014, 2017 und 2019 stürzt sich Keanu Reeves aka John Wick in die nächste Kugelhagel-Ballettstunde. Ein paar Jahre sind seit dem Sturz vom Continental-Hotel in Kapitel 3 vergangen. Zu Beginn übergibt der Bowery King (wieder dabei: Matrix-Mitstreiter Lawrence Fishburne) unserem wortkargen Antihelden das neue Tanzoutfit, mit dem John in den Wettkampf um sein Leben und seine Freiheit gehen kann. Neu dabei auf der Gegenseite ist der Vertreter der Hohen Kammer, der Marquis Vincent de Gramont (nicht sehr angsteinflößend: Bill Skarsgård), der mithilfe des blinden Caine (agil wie eh und je: „Ip Man“ Donnie Yen) das „Problem“ John Wick bis zum Old-School-Duell bei Sonnenaufgang in Paris jagen wird. So entsteht ein modernes Western-Szenario zwischen Pro und Antagonist, das inhaltliche Schwierigkeiten, aber stilistische Glanzpunkte hat. Eine letzte Bemerkung zum Cast: Lance Reddick spielt zum vierten Mal den Concierge Charon, bevor er am 17.03.23 wenige Tage vor dem Release für immer seine Augen schloss.

    Bisweilen kann sich „John Wick – Kapitel 4“ auf inhaltlicher Ebene nicht ganz Redundanz und Repetition verwehren. Das liegt in der Natur einer Filmreihe. Am wenig komplexen Handlungsaufbau hat sich im Vergleich zum dritten Kapitel nichts geändert, die Motive wirken im späten Stadium der Reihe zu bemüht und konstruiert. Der Kampf zwischen John und der Hohen Kammer geht in eine weitere Runde, weshalb sich die Wiederholungen etwas schwerfällig anfühlen. Schwerfällig wirken auch die Schritte von Keanu Reeves, der bis zu 90% seiner Stunts selbst macht.

    Als früheres Stunt-Double für Keanu Reeves in der Matrix-Reihe kennt Regisseur Chad Stahelski Genre und Darsteller genau und als ehemaliger Wettkampf-Kickboxer ist er mit Martial Arts vertraut. Diese Konstanz bietet den großen Vorteil einer visuellen und dramaturgischen Konsistenz der gesamten Reihe -und auch des vierten Kapitels. Imposante Kulissen und ein beinahe haptisches Szenenbild bilden den beeindruckenden Hintergrund für waghalsige Action, die es in sich hat. Teilweise wird man, auch getragen vom treibenden Techno-Sound, regelrecht wie in Trance in die Kampfhandlungen gezogen. Entscheidende Stilmittel, auch im Vergleich zu anderen Action-Reihen, sind Plansequenzen und geringe Schnittfrequenz. Wo ansonsten Action regelrecht zerschnitten wird, wo nur noch Beine, Arme und verwundete Köpfe zu sehen sind, bleibt John Wick im Fokus und zeigt ganze Körper im Rausch der Kampfkunst. Judo-Würfe, Jiu-Jitsu-Techniken, Schläge, Tritte, Hebel, Nunchuck-Aktionen. John Wick beherrscht alles, der Film zeigt dies gnadenlos. Ein faszinierender comichafter Realismus, zu dem reflektierte Pastellfarben, Schwarzlicht und Disco-Stroboskop beitragen.

    Fazit: Mit epischen und kurzweiligen 169 Minuten ist „John Wick – Kapitel 4“ ein moderner, rasanter Americano-Western, dem es mitunter an Tiefe und Handlungsoriginalität mangelt, der seine Stärken kennt und diese formidabel ausspielt. Denn Stahelski und Reeves finden auch noch im vierten Teil kreative, neu bebilderte Einstellungen zu den stil- und schusssicheren Kampfhandlungen. Bemerkenswert choreografierte, kinetische Plansequenzen im Neo-Noir-Style vor eindrucksvollen Szenerien erzeugen auch im vierten Kapitel der John-Wick-Reihe ein immersives Erlebnis. Wer dachte, es könnte ein „Zuviel“ an handwerklich gut gemachter Action geben, wird eines Besseren belehrt. Und auch für die Zukunft ist gesorgt: Die Dreharbeiten für den Ableger „Ballerina“ mit Ana de Armas sind abgeschlossen und die dreiteilige Mini-Serie „The Continental“ erscheint noch dieses Jahr. Bleibt nur zu hoffen, dass der einzigartige Stil des Wickversums nicht verloren geht.
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    (André Masannek)
    23.03.2023
    20:26 Uhr
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