Filmkritik zu Medusa

Bilder: Kinema 21 Fotos: Kinema 21
  • Bewertung

    Gegen die gesellschaftliche Versteinerung

    Exklusiv für Uncut
    Mit ihrem zweiten Spielfilm präsentiert Anita Rocha da Silveira ein Werk, das sich mit ausdrucksstarken Bildern gegen die christlich-fundamentalistische Gesellschaft in Brasilien richtet, die in „Medusa“ porträtiert wird. Nachdem er 2021 bereits auf einigen der großen Filmfestivals (darunter Cannes, Toronto und in Wien auf der Viennale) zu sehen war, landete der Film nun auch in den österreichischen Kinos.

    Im Mittelpunkt der Handlung steht Mariana, die Teil einer streng religiösen Gruppe ist. Zusammen mit den anderen jungen Frauen dieser Gemeinde zieht sie nachts los, um unter weißen Masken versteckt ungläubige (d.h. hauptsächlich sexuell aktive) Frauen brutal zusammenzuschlagen und ihnen ein Bekenntnis zu Gott abzuringen. Ansonsten besteht ihr Lebensinhalt darin, den Ansprachen des charismatischen Pastors zu lauschen, möglichst makellos auszusehen für Gott und für die jungen Männer der Gemeinde und darauf zu warten, dass einer von ihnen ihr einen Heiratsantrag macht. Als sie in ihrem neuen Job anfängt, Nachforschungen zur Geschichte der weißen Masken anzustellen, setzt für Mariana ein Prozess ein, der sie an den Mythen zweifeln lässt, die ihr bisheriges Leben bestimmten.

    An jeder Ecke stößt man in diesem Film auf religiöse und mythologische Anspielungen. Da wäre natürlich die offensichtlichste, die titelgebende: In der griechischen Mythologie wird die wunderschöne Gorgone Medusa Opfer einer Vergewaltigung und dafür anschließend bestraft (!), indem sie in ein abscheuliches Monster mit Schlangenhaaren verwandelt wird. Der Anblick ihres Gesichts ist anschließend so schrecklich, dass er Betrachter*innen versteinern lässt. Schließlich muss sich der männliche Held Perseus aufmachen und Medusa mithilfe einer List enthaupten. Dieser Mythos wird in Rocha da Silveiras Film sehr intelligent aufgegriffen. Man erzählt sich die Geschichte von Melissa, einer Schauspielerin, die eine Sexszene gedreht habe und dafür in der radikal-christlichen Gesellschaft des Films bestraft werden musste. Ihr Gesicht wurde durch einen Brandanschlag entstellt. Seitdem tragen die Frauen auf ihren gewaltvollen nächtlichen Missionierungstrips die weißen Masken als Anlehnung an diesen Mythos. Auch in anderen Referenzen wird der patriarchale Charakter der Erzählungen, die unsere und vor allem diese christliche Welt bevölkern, deutlich. Mehrmals wird auf den Sündenfall Adams und Evas im Paradies angespielt, der durch die Figur der Schlange mit dem Medusa-Mythos verknüpft wird. Auch hier steht die Frau für die Versuchung, für den Teufel, den ihr der Pastor in „Medusa“ immer wieder auszutreiben versucht.

    Ein weiterer zentraler Aspekt der Medusa-Erzählung, den dieser Film immer wieder aufgreift, ist die Frage nach dem Blick. „Medusa“ eröffnet mit der Nahaufnahme eines Auges, die, wie sich gleich darauf herausstellt, Teil eines Musikvideos ist, das sich eine der Figuren auf einem Handybildschirm anschaut. Dieser Film-im-Film-Moment, von dem es später noch weitere geben wird, öffnet uns selbst die Augen und schärft die Sinne für Fragen nach dem Blick, nach der Perspektive. Wer schaut wen an? Immer wieder schauen Figuren zurück, suchen den Blickkontakt mit uns als Zuschauer*innen. Wir sehen etwa, wie Youtube-Videos aufgenommen werden, in denen den jungen christlichen Zuschauerinnen erklärt wird, wie sie sich am besten ihre Wunden überschminken können, um für ihren Ehemann perfekt auszusehen. So legt „Medusa“ immer wieder das regressive Potential und die misogyne Grundlage offen, die die (christliche) Gesellschaft und auch den sozialen Medien inhärent sind.

    Diese und viele weitere Aspekte der Handlung an sich bilden bereits ein spannendes Grundgerüst für den Film, das gesellschaftliche Strukturen angreift. Vor allem besticht Rocha da Silveira jedoch mit einer Verspieltheit in der audiovisuellen Darstellung dieser Geschichte, die „Medusa“ zu einer faszinierenden und unterhaltsamen Erfahrung machen. Rote, grüne, gelbe Neonfarben dominieren den Film, die bereits erwähnten Blicke in die Kamera brechen den Erzählfluss ebenso auf wie surreale Gesangs- und Tanzeinlagen mit Musikvideo-Ästhetik. Diese Kreativität zeichnet den Film aus und hebt ihn von vielen anderen ab, die sich auf der Handlungsebene mit regressiven Gesellschaftsstrukturen beschäftigen. Beim Anblick von Anita Rocha da Silveiras Film erstarrt man höchstens vor Begeisterung zu Stein.
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    (Hans Bonhage)
    30.12.2022
    13:04 Uhr