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    „Man stirbt ja nicht schnell, man stirbt langsam, indem man sich selbst sterben sieht“

    Exklusiv für Uncut von der Diagonale
    „Wir nehman die zwa mit“. Die Polizisten, die kurz nach dem Anschluss die Wohnung der Familie Feingold in Wien durchsuchen, finden den Vater, der sich gerade in Jugoslawien aufhält, nicht vor. Stattdessen nehmen sie die beiden Brüder Marko und Ernst mit, die gerade aus Italien zu Besuch bei den Eltern in Österreich sind. Eine willkürliche Auswahl. Einer so gut wie der andere. Rechtlos. Hilflos. Wenn Marko Feingold sich an die Szene erinnert, spricht er im Dialekt der Polizisten.

    Der Dokumentarfilm „Marko Feingold – ein jüdisches Leben“ hört seinem Protagonisten dabei zu, wie er seine Lebensgeschichte erzählt. Er lässt ihm Zeit dabei, chronologisch wird sein Leben hörbar gemacht, ausgebreitet. Schwarz-weiße Bilder, sein Profil, sein Körper, der Mund, wenn er spricht, begleiten die Worte, geschlossene Augen, die sich im Moment öffnen, in dem er sagt, dass er noch immer nicht fertig ist, so lange nicht fertig, solange es Menschen gibt, die das, was ihm passiert ist, leugnen.

    Die Entwicklung eines Menschen vollzieht sich in den Ohren der Zuschauer nach, eine Kindheit und Jugend in den Kriegs- und Zwischenkriegsjahren, eine Lehrzeit, erste Erfolge als Vertreter. Die plötzliche Verhaftung und die Zeit in den Lagern. Hunger ist eine das Leben bestimmende Tatsache, nicht erst im KZ, schon viel früher, ein Gefühl, das den Interviewten sein Leben lang nicht verlassen wird. Der Prater als Zufluchtsort kommt vor, in kleinen Anekdoten sehen wir den Buben vor uns, der hier viel mehr fürs Leben gelernt hat als in der Schule. Ohne die Strizzi-Bekanntschaften und das, was sie ihm beigebracht haben, nämlich „den schlauen Menschen auf ihre Schliche kommen“, hätte Feingold die KZs wohl nicht überlebt, meint er. Und er hat Auschwitz, Neuengamme, Dachau und Buchenwald überlebt.

    Er redet über seine Ehrfurcht vor den Frauen, die es geschafft haben, eine Familie von 4 Kindern im Krieg durchzufüttern, sie überleben zu lassen, die Ehrfurcht vor seiner Mutter, die sie alle durchgebracht hat durch die Hungerjahre. Das Nichts, das übriggeblieben ist von diesen 4 Kindern, auf die seine Eltern so stolz hätten sein können, nämlich er als einziger, der zumindest noch von dieser Familie berichten kann. Er erzählt aber auch über seine Vorliebe für italienische Anzüge, davon, wie er die Entwicklung in Österreich nicht ernst genommen hat, wie er auf dem Heldenplatz dabei war, als Hitler nach dem Anschluss bejubelt wurde, unkenntlich als Jude in seinem italienischen Anzug und mit den perfekten Italienischkenntnissen, und von seiner Zeit im KZ.

    Die Interviewteile des Dokumentarfilms, in denen man Feingolds Züge dabei beobachten kann, wie sie sich im Erinnern und Erzählen verändern, werden unterbrochen von Auszügen aus Briefen und Archivmaterial.

    Die Briefe hat Feingold, der als Zeitzeuge aktiv dafür gesorgt hat, dass der Holocaust nicht vergessen werden kann, über die Jahre erhalten. Sie beschimpfen ihn und leugnen die Verbrechen, die passiert sind. „Seids froh, ihr warts im KZ, da seids wenigstens ned bombardiert worden.“ Ähnliches hat Feingold über die Jahre in Österreich immer wieder gehört. Die Briefauszüge sind schockierend und halten einem die Gegenwärtigkeit von Antisemitismus vor Augen.

    Die Archivmaterialien, die das Interview unterbrechen, reichen von Propagandavideos für amerikanische Soldaten über Reden und Archivmaterial vom Heldenplatzjubel bis zu Propagandavideos der Nationalsozialisten. Ein Video, das die Nationalsozialisten zur Einführung des Rechtsfahrgebotes in Österreich ausgestrahlt haben, wird beispielsweise gezeigt, auch ein sehr skurriler Cartoon, bei dem ein amerikanischer Soldat es mit einem deutschen Soldaten aufnehmen muss, der seine Waffe viel besser putzt als er selbst. Diese Archivaufnahmen fand ich sehr spannend, der genaue Bezug zur Geschichte von Marko Feingold erschloss sich mir allerdings nicht immer. Das wäre eine kleine Kritik, die sich anbringen ließe.

    „Ein deutsches Leben“, an dem drei der vier Filmemacher, die „Marko Feingold – ein jüdisches Leben“ gedreht haben, beteiligt waren, hat 2016 die Geschichte von Brunhilde Pomsel, der persönlichen Sekretärin von Propagandaminister Joseph Goebbels aus ihrem Mund hörbar gemacht. Diesem Film, der laut ORF-Homepage„ die Verführung und die Bereitschaft verführt zu werden, entlarvt“ und „vielleicht eine der letzten, großen, persönlichen Geschichten aus dieser Zeit, die noch erzählt werden kann, ist“, stellen die Filmemacher 2020 eine andere der letzten, großen, persönlichen Geschichte aus dieser Zeit gegenüber.

    „Marko Feingold – ein jüdisches Leben“ lässt einen von Lachen bis Gänsehaut alles spüren. Man folgt diesem Menschen, der mit charmantem Witz von der „bladen Fanny und ihren Unterhosen“ im Prater bis zum Heldenplatz, an dem er vielleicht selbst sogar die Hand gehoben hat, um nicht aufzufallen, erzählt, gerne und lässt sich mitnehmen. Es graust einem, man fragt sich, wer wäre man selbst in einer solchen Zeit gewesen. Und wird sich einmal mehr bewusst, dass die Vergangenheit nur dann vergangen bleibt, wenn man dafür kämpft, dass sie nicht wiederkommt.

    Wer sich noch zusätzlich mit Zeitzeugenschaft befassen möchte, dem möchte ich die Dokumentation „Der schönste Tag“ von Fabian Eder (2021) ans Herz legen. Dort erzählen Großeltern ihren Enkelkindern über ihre Jugend in der Nazizeit. Sie sitzen dabei in einem Zugabteil, die Landschaft fliegt außen vorbei, und sie können sich den Fragen der Enkel nicht entziehen. Das Schweigen aufbrechen! Die Dialoge, die dabei entstehen, und die Reaktionen der Enkel, sind erschütternd und berührend.
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    (Irene Hetzenauer)
    13.04.2022
    21:27 Uhr