Bilder: Netflix Fotos: Netflix
  • Bewertung

    Maggie Gyllenhaals poetische Adaption des Ferrante-Romans

    Exklusiv für Uncut
    Wir alle kennen die Erfolgsgeschichte einer Autorin, die sich Elena Ferrante nennt und tatsächlich anonym bleiben will. Die ominöse Frau Ferrante hat sich mit dem Werk „Meine geniale Freundin“, Teil einer neapolitanischen Saga, weltweit einen – erfundenen – Namen gemacht. Ein weniger bekanntes Buch von ihr heißt „Frau im Dunkeln“ und dieser Roman wurde nun von Maggie Gyllenhaal verfilmt. Gyllenhaal war der ausdrückliche Wunsch der Autorin und es ist wiederum deren Regie-Debüt, wofür sie Oscar-Preisträgerin Olivia Coleman in der Hauptrolle gewinnen konnte. Wieviel mehr braucht es, um die höchstmögliche Aufmerksamkeit des (Streaming)-Publikums auf sich zu ziehen?

    Olivia Coleman verkörpert also Leda Caruso, eine 48-jährige britische Literaturwissenschaftlerin, nun in Boston ansässig, die Arbeitsurlaub in Griechenland macht. Täglich fährt sie mit ihren Büchern an einen Strand, liest, schreibt, schwimmt und schaut vor sich hin. Doch es dauert nicht lange da wird die gleichförmige Idylle von einer über die Bucht hereinbrechenden Großfamilie aus eher zwielichtigem Milieu – das Odeur organisierter Kriminalität liegt in der Luft – heimgesucht. Obwohl Leda sich empfindlich gestört fühlt, interessiert sie sich sofort für die junge Mutter Nina (Dakota Johnson) und deren kleine Tochter Elena. Leda hat selbst, so erfährt man kurz darauf, zwei bereits erwachsene Töchter und ein schwieriges Verhältnis zu ihnen. Weshalb, das wird in ausführlichen Rückblenden dargelegt, in denen Jessie Buckley die junge Leda spielt.

    Die große Parallele zwischen Leda und Nina ist, dass beide Frauen an der Mutterschaft zu zerbrechen scheinen. Mutterschaft wird in „Frau im Dunkeln“ (The Lost Daughter) als eine Art destruktive Naturgewalt dargestellt. Sie löscht die Person hinter der Funktion zumindest auf Zeit vollständig aus. Leda, die an ihrer Karriere arbeiten will, wird stattdessen zu Seismographin kindlicher Befindlichkeiten und bekommt schon mal eine grobe Hand gegen die Stirn geschlagen, wenn sie nicht sofort auf Zuruf reagiert. Ninas Leben wird vom fortwährenden Gezeter ihrer kleinen Tochter begleitet, einmal erzählt sie völlig erschöpft, dass sie fast nicht mehr schläft. Die Gesellschaft rundherum bietet ungebetene Ratschläge an, die sich als Hilfestellung maskieren und fühlt sich sonst nicht zuständig. Zwei Frauenleben voller Kreativität, Lust und Lebensfreude sind lautlos in sich zusammengebrochen und niemand interessiert sich dafür.

    Gyllenhaal zeigt uns die Welt aus Ledas Perspektive; mit einer Art „Female Gaze“ lässt sie Ledas Blicke über Ninas Körper wandern, der meist mit raffiniert-geschnürten Badeanzügen und Bikinis bekleidet ist. Dazu trägt Nina Goldschmuck und Ketten, die so ziemlich das Gegenteil von „sophisticated“ bedeuten. Als Zuseherin hat man oft das Gefühl, man würde den Blicken eines Mannes folgen, der Nina ins Visier nimmt. Es ist eine Facette der Ambivalenz, die Leda gegenüber Nina empfindet. Sieht sie Nina als eine Art jüngeres Ebenbild? Als eine mögliche Schwester ihrer eigenen Töchter, also als eigenes Kind an? Oder aber als sexuelles Wesen, das sie heimlich begehrt? Ganz klar wird das nicht. In einer Szene aus Ledas Jugend erkennen wir eine zumindest in Ansätzen homoerotische Begegnung mit einer anderen Frau; das Sexualleben mit ihrem Ehemann wird dagegen als unbefriedigend angedeutet. Es gibt zwar auch Männer in „The Lost Daughter“, Tourismusangestellte, wie der ältere Lyle (Ed Harris) oder der junge Will (Paul Mescal), mit denen Leda jeweils einen harmlosen Flirt unterhält, aber wirkliches Interesse, geschweige denn sexuelles Verlangen, kann man von ihrer Seite aus nicht erkennen.

    Und dann kommt noch Bon Jovi ins Spiel. Wir wissen spätestens seit der Episode „The Limo“ aus der Serie „How I Met Your Mother“, dass Bon Jovi offensichtlich unwiderstehlich ist. Krawallschachtel Barney Stinson spielt „You give love a bad name“ immer wieder und es ist jedesmal ein richtiger Knaller, die ganze Limousine bebt vor guter Laune und Übermut. In „The Lost Daughter“ besucht Leda in einer der besten, weil atmosphärisch dichtesten Szenen des Films ein Fest und als „Living on a Prayer“ aufgelegt wird, ist das der erste (und einzige) Moment, in dem Leda tatsächlich den Eindruck macht als wäre sie glücklich, gelöst und mit sich selbst im Reinen. Anscheinend hat Bon Jovi diese Wirkung auf Menschen.

    Maggie Gyllenhaal, die schon als Schauspielerin überzeugend meist äußerst unkonventionelle Charaktere dargestellt hat, ist als Regisseurin offenbar ein Naturtalent. Sie versteht es, Ferrantes Roman mühelos in das Medium Film zu übersetzen als hätte sie nie etwas anderes getan. Selbstsicher und unaufgeregt erzählt Gyllenhaal, die auch das Drehbuch verfasst hat, diese Geschichte mit starken Bildern, unaufdringlicher Symbolik und einem perfekten Gefühl für Stimmungen. Und nicht zu vergessen: hervorragenden Schauspielern. Trotzdem ist „The Lost Daughter“ eher etwas für Cineasten, die zwischen den Zeilen lesen wollen und können, denn auf der Handlungsebene – das sei an dieser Stelle auch vermerkt – passiert nicht wahnsinnig viel.
    heidihome_9fc566c28c.jpg
    (Heidi Siller)
    12.01.2022
    16:11 Uhr
    Autorin der monatlichen Kolumne „Heidi@Home“ rund ums Thema „Fernsehserien“.