Filmkritik zu Titane

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  • Bewertung

    Alexia und das Geilomobil

    Exklusiv für Uncut vom Slash Filmfestival
    Die zwölfte Ausgabe des Slash Filmfestivals ist eröffnet und zur Einstimmung auf zehn Tage voller Blut, Gore und Gruselspaß wurde im Rahmen des ersten Festivaltags kein geringerer Film als der diesjährige Palme-d’Or-Gewinner „Titane“ in seiner Österreichpremiere vorgeführt. Regisseurin Julia Ducournau, die sich mit ihren fulminanten Coming-of-Age-Debüt „Raw“ einen Platz in den Herzen von Genreliebhaber*innen gesichert hat, hat mit „Titane“ bereits Geschichte geschrieben, sie gilt als erste weibliche Solo-Gewinnerin der prestigeträchtigen Goldenen Palme. Ebenso ungewöhnlich wie schwierig ist eine Kategorisierung des Films, der nicht nur sämtliche Genre- sondern auch alle Geschlechterkonventionen zu sprengen vermag. Hauptdarstellerin Agathe Rousselle brilliert in der gewiss herausfordernsten Rolle ihrer noch jungen Schauspielkarriere und auch Vincent Lindon, Urgestein der französischen Filmszene, präsentiert dem Publikum in seiner Rolle als manischer, drogenabhängiger Vater eine völlig unerwartete Bandbreite an Emotionen.

    Nach einem Unfall in Kindesalter, seit dem Alexia eine Titanplatte im Kopf trägt, fühlt sie sich sexuell von Autos angezogen. Als Tänzerin räkelt sie sich lasziv auf den Motorhauben auffrisierter Autos und genießt dabei die unglaubliche Nähe zu den Fahrzeugen, mit welchen sie sich heimlich aktiv sexuell vergnügt. Doch das ist nicht das einzige Geheimnis der wortkargen Protagonistin: Rasch stellt sich heraus, dass Alexia für eine Reihe von brutalen Morden verantwortlich ist, die mit besonderer Vorliebe ihre Haarnadel als Mordinstrument zweckentfremdet. Als ihr auffällt, dass sich an ihrem Körper eine Schwangerschaft abzeichnet und sie in ihrer Unterhose statt Blut schwarzes Motoröl vorfindet, gerät sie in Panik. Im Haus ihrer Kollegin verfällt Alexia in eine Art Blutrausch und ermordet beinahe sämtlich Bewohner*innen. Ein Beinaheopfer entkommt jedoch und der Mörderin bleibt keine andere Wahl als unterzutauchen. Getarnt als der in Kindesjahren spurlos verschwundene Adrien, versteckt sich Alexis mit neuer Kurzhaarfrisur und abgebundenen Bauch und Brüsten in der Obhut des labilen Feuerwehrmanns Vincent, der glaubt seinen Sohn nach vielen Jahren der Ungewissheit wiedergefunden zu haben. Wer sich nun denkt die bizarre Prämisse des Films würde einem authentischen emotionalen Kern widersprechen, der irrt gewaltig. Während „Titane“ stellenweise mit ultraharten, Brechreiz auslösenden Szenen aufwartet, die Body-Horror-Altmeister David Cronenberg mit Stolz erfüllen würden, entwickelt sich der Film insbesondere in den letzten zwei Akten ebenso in Richtung eines herzlichen, gefühlvollen Familiendramas in dessen Zentrum als perfektes Exempel eines „odd couples“ das plötzliche Vater-Sohn-Duo Vincent und Alexia/Adrien stehen. Der bewusste Bruch mit klassischen Geschlechterrollen passiert hierbei nicht nur in der Transformation von Alexia zum androgyn anmutenden Adrien, die heimliche Infiltration einer schwangeren Frau in die traditionelle Männerdomäne der Feuerwehrleute treibt die radikale Ader des Films auf die Spitze.

    Die (buchstäbliche) Bildgewalt des Films entlädt sich beim wilden Aufeinandertreffen von Metall, Fleisch und Feuer. Eindrücklich führt der Film so vor Augen, wie nah die Wahrnehmung von Schönheit und Groteske beieinander liegen kann.

    Dass ein Film, der sich so kompromisslos wie mutig dem Mainstream-Kino entgegengestellt, die Cannes-Jury für sich überzeugen konnte, überrascht. Als besonders massentauglich kann man Ducournaus Opus jedenfalls nicht charakterisieren, erfordert die Sichtung doch zumindest ein gewisses Maß an Durchhaltevermögen und einen starken Magen.
    Furchtlos, einzigartig und immer wieder überraschend – „Titane“ zählt zurecht zu den bestrezensiertesten Filmen des Jahres und den Namen Julia Ducournau werden wir in Zukunft wohl noch oft hören!
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    (Julia Pogatetz)
    24.09.2021
    21:52 Uhr