Filmkritik zu The North Wind

Bilder: Filmverleih Fotos: Filmverleih
  • Bewertung

    Visuell umwerfende Familiengeschichte ohne klares Ziel

    Exklusiv für Uncut vom International Film Festival Rotterdam
    Renata Litvinovas filmische Adaption ihres Bühnenstücks „The North Wind“ ist umwerfend und überfordernd zugleich. Ein visuelles Meisterwerk, verankert in einem übersprudelnden Cocktail aus romantischer, anachronistischer und Gothic inspirierter Träumerei, ein Hauch traditioneller russischer Märchen und Fantasiewelten. Gleichzeitig aber auch ein vollgestopfter Reigen aus Familienkonstellationen, Verbitterung, Verblendung und Manipulationen, der so viel mehr erreichen möchte als dass er den Zuschauer teilweise erlaubt zu fassen.

    Um die Handlung halbwegs kohärent zusammenzufassen, dreht es sich um die matriarchal geführte Familie Margaritas (Litvinova), die mit ihrer Mutter und deren Gefährtin, ihrem Sohn Benedict, ihrer Schwester Lotta und deren Tochter Ada, ihrem Cousin Boris sowie den Angestellten jedes Jahr zur Neujahrsfeier zusammenkommt. Irgendwann in den 50ern einsetzend, zieht sich die Handlung über mehrere Jahre dahin. Die Familie, wie Margarita erklärt, nutzt in dieser Silvesternacht die mysteriöse 13. Stunde, welche den ewigen Zyklus der Wiederholung durchbrechen kann und den Tod vereitelt. Zudem wartet sie darauf, dass ihr lang ersehnte zukünftige Liebe sich bei ihr melden wird.

    Dieses Austricksen der fortschreitenden Zeit, das kaum vorhandene Altern der Figuren, sowie die bizarr anachronistisch anmutende Welt sind die Taktangeber in einem Suchen nach der wahren, ewigen Liebe. Die Welt, die Margarita und ihre Familie beheimatet ist absurd und surrealistisch, ebenso wie die Steine, die ihnen der Tod in den Weg legt.

    Benedict bringt zu Beginn seine Verlobte Fannie mit, nur um sie kurz darauf in einem Flugzeugunfall zu verlieren. Fannies Verlust, so betont Margarita immer wieder, war das Anfang vom Ende. Ihr Geist verfolgt die Familie. Benedict, der aus Trauer ihre Schwester Faina heiratet, vergrämt zusehends und flüchtet sie in das Andenken seiner eigentlichen Liebe. Sein Sohn Hugo, wächst laut Margarita ohne wahre Stärken zu einem Kind im Mann auf. Die optisch von einer langen Nase und Hüftspeck eingeschüchterte Ada heiratet den Chirurgen Zhgutich nur um ihn später zu verlassen. Die Felder und das Haus verwahrlosen zunehmend, so dass Margaritas Schwester Lotta nur mehr verrottetes Geld aus den „Nördlichen Feldern“, wie sie ihr Land nennen, ausgraben kann.

    „Alle haben ihre eigene Geschichte mit der Liebe“, meinte Litvinova vorab zu der Zeichnung ihrer Figuren. Sie sei nicht immer glücklich, aber letztendlich hätten alle ihre wahre Liebe getroffen. Und nichts ist so ewig, abseits der Familienlebensspanne, wie die Liebe zu finden. Das Für und Gegen einander, das Sterben und Lieben offenbart jedoch auch eine gewisse Verbohrtheit. An Festhalten an Ideen und Traditionen, die manche Familienmitglieder auf der Strecke lässt. Veränderungen, sei es nur der Tod einer Verlobten, hallen Jahrzehnte nach in einem Kreis aus Leuten, der an Tradition festhalten will. Es wirkt somit durchaus passend, dass Margarita gegen Ende des Films wie von einem anderen Stern wirkt, als sie mit der U-Bahn durch die unterirdischen Windungen des Moskauer Verkehrsnetzes tingelt.

    Als Zuseher kann man hier viel rein interpretieren. Aber das ist auch das Problem des Films. Nichts scheint wirklich haften zu bleiben. Ist es eine Geschichte über das Schicksal von Frauen, ein seltenes Aufbäumen des Matriarchats? Ist es ein tragischer Einblick in die Konsequenzen, wenn man sich nicht emotionale von Menschen oder Zuständen trennen kann? Wenn man jemanden aus den falschen Gründen liebt? Ist es die gut gestellte Bourgeoisie, die blind in ihrer Welt weiterlebt, ohne die Zeichen der Zeit um sich zu erkennen, den Verfall ihres Umfelds?

    „The North Wind“ ist ein beeindruckendes Zeugnis von Litvinovas kreativem Geist und des brillanten Production Designs von Nadezhda Vesilyeva, Nina Vasenina und Sergey Fevralev. Aber es bleibt letztendlich keine tiefer gehende Botschaft hängen.
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    (Susanne Gottlieb)
    06.02.2021
    20:26 Uhr
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