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    Die wunderbare Welt der Sesamstraße

    Exklusiv für Uncut vom Sundance Film Festival
    Hierzulande assoziiert man die Sesamstraße vor allem mit liebenswerten Kultfiguren wie Ernie und Bert, Elmo oder dem Krümelmonster. Obwohl es durch Sender wie dem WDR, ARD oder KiKa immerhin auch eine eigene deutschsprachige Version gibt, ist der Hype der populären Kindersendung nie voll und ganz bei uns angekommen. Im Ursprungsland USA hingegen gilt die „Sesame Street“ seit Jahrzehnten als kulturelles Phänomen. Mit ihrer Doku „Street Gang: How We Got to Sesame Street“ blickt Regisseurin Marilyn Agrelo („Mad Hot Ballroom“, „An Invisible Sign“) nun auf die langjährige Geschichte der TV-Sensation zurück und lässt ehemalige Mitwirkende zu Wort kommen.

    Der Dokumentarfilm setzt 1968 bei der Entstehung der Serie an und arbeitet sich bis zu Jim Hensons Tod im Jahre 1990 durch. Henson wird den meisten wohl als legendärer Schöpfer der Muppets ein Begriff sein, von denen einige über die Jahre auch in der Sesamstraße zum Einsatz kamen. Anfangs geht Agrelos Film auf sehr unterhaltsame Weise auf die befremdliche Kinderfernsehlandschaft der späten Sechziger ein. Zu dieser Zeit waren zahlreiche ans jüngere Publikum gerichtete Fernsehformate daran bemüht, ihren Zuseher*innen durch fragwürdige Methoden Produkte anzudrehen, anstatt ihnen wertvolle Lehrinhalte zu vermitteln. Fernsehproduzentin Joan Ganz Cooney wollte diesen Missständen Einhalt gebieten und die Kraft des Mediums Fernsehen dazu nutzen, Kindern tatsächlich Lehrreiches mit auf dem Weg zu geben. Gemeinsam mit dem Psychologen Lloyd Morrisett gründete sie daher 1968 die Non-Profit-Organisation „Children's Television Workshop“ (heute: „Sesame Workshop“), die sich knapp ein Jahr später für die Erfindung der „Sesame Street“ verantwortlich zeichnete.

    Anschließend zeigt die Doku eindringlich, wie die Serie sich bereits in der Anfangsphase für mehr Diversität im Fernsehen einsetzte. Die Sesamstraße wurde von Beginn an von Menschenfiguren unterschiedlichster Herkunft und Hautfarbe bewohnt, wodurch positive Gesellschaftsbilder vermittelt wurden, die damals gängige Stereotypen durchbrachen. Die daraus hervorgegangenen Kontroversen – beispielsweise das plötzliche Verschwinden aus dem TV-Programm des erzkonservativen US-Bundesstaates Mississippi oder das Schicksal des ‚schwarzen Muppet‘ Roosevelt Franklin - werden zwar nur beiläufig angeschnitten, finden aber immerhin überhaupt Erwähnung.

    In seiner allgemeinen Aufmachung, bei der stets aktuelle Interviews mit früheren Cast- und Crew-Mitgliedern der Sesamstraße eingeblendet werden, mag „Street Gang“ an manchen Momenten einer eher herkömmlichen Fernsehdokumentation gleichen. Was die Doku darüber hinaus aber so sehenswert und emotional kraftvoll macht, ist das verwendete Rohmaterial. Beim Originalausschnitt der Folge, in der dem jungen Publikum anhand der Reaktion der Figur Big Bird das im Kinderfernsehen meist tabuisierte Thema Tod nähergebracht wurde, werden einige Zuschauer*innen wohl Tränen vergießen müssen. Äußerst amüsant sind hingegen die gezeigten Outtakes, auf denen wir die Rarität fluchender Muppets zu sehen bekommen.

    Generell nimmt sich die Doku auch genug Zeit, um all die kreativen Köpfe, die sich an der ursprünglichen Kreation der Sesamstraße beteiligten, ausgiebig zu ehren. Jon Stone, dem kauzigen Original-Regisseur und -Drehbuchautoren der Sendung, wird in der Doku besonders viel Zeit und Aufmerksamkeit geschenkt. Auch das große Erbe des Muppet-Schöpfers Jim Henson, der früher gemeinsam mit Yoda-Darsteller Frank Oz auch den Kultfiguren Ernie und Bert die Stimmen lieh, kommt nicht zu kurz. Die Doku endet mit wehmütigen Aufnahmen von Hensons Begräbnis im Jahre 1990, bei dem Big Bird die ursprünglich von Kermit, dem Frosch, eingesungene Toleranzhymne „It's Not Easy Bein' Green“ zum Besten gab.

    Die sprunghafte Struktur der Doku, mit der oft übergangslos in ein neues Thema gewechselt wird, kann durchaus bekrittelt werden. Man könnte aber genauso meinen, dass ebendiese den experimentierfreudigen Geist seines behandelten Sujets passend wiedergibt.

    „Street Gang: How We Got to Sesame Street“ wirft einen unterhaltsamen und informativ aufbereiteten Blick hinter die Kulissen einer revolutionären Fernsehshow. Marilyn Agrelos Doku zelebriert eine der bahnbrechendsten und einflussreichsten Kindersendungen der TV-Geschichte gleichermaßen liebevoll und pointenreich. Herzerwärmend!
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    (Christian Pogatetz)
    09.02.2021
    13:09 Uhr