Filmkritik zu In the Same Breath

Bilder: Filmverleih Fotos: Filmverleih
  • Bewertung

    Wie alles begann…

    Exklusiv für Uncut vom Sundance Film Festival
    Knapp ein Jahr ist es her, dass sich unser Alltag von einem auf den anderen Tag schlagartig veränderte. Die breitflächige Ausbreitung von SARS-CoV-2 ausgehend von der chinesischen Provinz Hubei auf nahezu allen Kontinenten kam überraschend und unvorhersehbar. Oder etwa nicht? Dokumentarfilmerin Nanfu Wang (Hooligan Sparrow, One Child Nation), die seit gut zehn Jahren von China in die USA ausgewandert ist, geht in ihrem neuesten Werk „In the Same Breath“ den Ursprüngen des heimtückischen Virus in der Wuhan-Region nach und deckt dabei Grauenhaftes auf.

    Die Dokumentation zeigt zunächst die Filmemacherin selbst, als sie sich Anfang 2020 mit ihrer Familie auf den Weg zu ihren Eltern nach China macht. Bevor sie dort gemeinsam das traditionelle chinesische Neujahr feiern wollten, war es vorgesehen, dass Wangs Eltern während ihrer Zeit als Sundance-Jury-Mitglied zwei Wochen lang auf ihren Sohn aufpassen. Nichtsahnend kommt sie am 23. Jänner in den Vereinigten Staaten an, wo sie über einen plötzlichen Lockdown in Wuhan in Kenntnis gesetzt wird. Mit vereinten Kräften gelingt es Wangs Ehemann schließlich den kleinen Buben zurückzuholen, doch die schrecklich ungewissen Zustände in ihrem Heimatland wecken ihre Neugierde und so beschließt sie befreundete Kameraleute zu kontaktieren, die für sie das Geschehen in und um Wuhan dokumentieren sollen. Was in Zuge dessen ans Licht kommt, ist nicht nur das systematische Unterfangen der chinesischen Regierung die Anfänge der Pandemie zu vertuschen und für Propaganda zu instrumentalisieren, sondern auch die zahlreichen Schicksale, die mit dem verheerenden Missmanagement der Pandemie durch den chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping einhergehen.

    Über die fehlende Initiative Chinas das Virus rechtzeitig einzudämmen, zieht Wang schließlich Parallelen zum unglaublichen Versagen der USA einer Ausbreitung des Virus Einhalt zu gebieten. Während es in China zum Alltag gehört nicht frei über das tatsächliche Ausmaß der Pandemie zu sprechen (bereits Anfang Jänner versuchten acht chinesische Ärzte auf eine neue Krankheit aufmerksam zu machen, sie wurden verhaftet und öffentlich denunziert), kommt es doch sehr unerwartet, dass auch in den Vereinigten Staaten medizinisches Personal gefeuert wurde, nachdem sie öffentlich über fehlende Ausrüstung und Missstände sprachen. Wie sehr die Krise dem Gesundheitspersonal psychisch zugesetzt hat, merkt man in diesen Interviews deutlich, kaum einen von ihnen gelingt es, ihre Trauer ob der zahlreichen Todesopfer zurückzuhalten.

    Chinas (gelungener) Versuch, die Corona-Krise als Propagandamittel zweckzuentfremden und mit einer patriotischen Zeremonie gar den Sieg über das Coronavirus zu feiern, zeigt nur allzu gut die Wirkweisen eines autoritären, beinahe totalitären Staatsapparates auf, der die Menschen manipuliert und gleichzeitig bedeutende Fakten bewusst zurückhält. Während die offiziellen Todeszahlen der Hubei-Region bei ungefähr 3000 Verstorbenen liegt, zeigt der Film, dass diese Zahl um ein Vielfaches höher sein dürfte, zwischen zehn und hundert Mal so viel wie angenommen.

    Die Dokumentation trifft mit einer enormen emotionalen Wucht und ruft Entsetzen und Wut hervor. Vor allem deshalb, weil das Thema immer noch unseren Alltag bestimmt und nicht aus der Ferne betrachtet werden kann und immer noch wie ein Damoklesschwert über unser aller Leben hängt. Mutationen und Superspreader machen das Virus unberechenbar, das Ende der Pandemie ist ungewiss – Umstände, die uns der Film schonungslos vor Augen führt.

    Ein wichtiges zeitgeschichtliches Dokument, das nicht nur den Ursprüngen des Corona-Virus auf den Grund geht, sondern auch das damit verbundene menschliche Versagen akribisch skizziert! Nanfu Wang demonstriert auch hier, dass ihr einzigartiges Gespür für aktuelle Geschehnisse und ein messerscharfer Blick fürs Essentielle die grundlegenden Instrumente sind, die die Regisseurin zu einer der wichtigsten Stimmen des internationalen Dokumentarfilms machen.
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    (Julia Pogatetz)
    17.02.2021
    19:57 Uhr