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    Surreal-schöne Zeitreise quer durch japanische (Film-)Geschichte

    Exklusiv für Uncut vom Slash Filmfestival
    Nobuhiko Obayashi war zweifelsohne einer der Größen des japanischen Experimentalkinos. Der eigensinnige Kopf dürfte den meisten wohl für sein surreales Kultmeisterwerk „Hausu“ aus dem Jahre 1977 ein Begriff sein, der bis heute als einer der einflussreichsten und wichtigsten Vertreter des J-Horrors gilt. Anfang des Jahres erlag der vielgeschätzte Regisseur im Alter von 82 Jahren seinem vierjährigen Krebsleiden. Obwohl Obayashi an Lungenkrebs im Endstadium gelitten hatte, hielt ihm das nicht davon ab, kurz vor seinem Tod noch ein letztes großes Filmprojekt in die Wege zu leiten. Dessen knapp dreistündiges finales Opus Magnum mit dem Titel „Labyrinth of Cinema“ feierte im November letzten Jahres, fünf Monate vor dem Ableben des Filmmachers, im Rahmen des Tokyo International Film Festival seine Weltpremiere.

    Der eigentliche ‚Plot‘ von Obayashis letztem Werk lässt sich nur schwer in Worte fassen. Im Vordergrund steht eine Gruppe Japaner*innen unterschiedlichem Alters, die sich an einem regnerischen Tag in einem voll besetzten Kino in der Großstadt Onomichi zusammenfinden. Da das rustikale Lichtspielhaus kurz vor der Schließung steht, wird es für eine Nacht mit einem Marathon japanischer Kriegsfilme bespielt. Schon bald werden ein paar der anwesenden Kinozuschauer*innen selbst zu den Hauptakteuren der gezeigten Filme und so auf eine Zeitreise quer durch historische Ereignisse ihres Heimatlandes entsandt. Darunter: das allerorts beliebte Schulmädchen Noriko (Rai Yoshida), das mithilfe von Filmen so viel wie nur möglich über sich selbst und die Welt um sie herum lernen möchte. Begleitet wird das Mädchen von ihrem film-liebenden „Romantic Interest“ Mario Baba (Takuro Atsuki), dem Möchtegern-Gangster Shigeru (Hosoda Yoshihiko) und dem Geschichtsfanatiker Hosuke (Takahito Hosoyamada), die allesamt ebenso buchstäblich in die Leinwand des Kinos eintauchen.

    Alleinig schon aufgrund der wahnsinnig sprunghaften und wirren Erzählweise, wird Obayashis letzter Film vermutlich nur für eine kleine Nische an Zuschauer*innen funktionieren. In der ersten Hälfte durchstreift der Film in atemlosem Tempo binnen kürzester Zeit sämtliche Höhepunkte japanischer Kriegsgeschichte – angefangen mit dem Boshin-Krieg über den Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg bis hin zur Schlacht um Okinawa. Zu Beginn wird das Publikum von einer Unmenge optischer wie auch akustischer Reize überflutet, die man nur schwer alle auf einmal verarbeiten kann. Dennoch erzeugt schon die anfängliche Abfolge an angenehm altmodischen wie auch kitschig-künstlichen Bildkompositionen (selbst artifizielle Greenscreen-Hintergründe werdet adäquat verwendet) einen Rhythmus und Sog, dem man sich als Zuschauer nur schwer entziehen kann. Wenn unsere Protagonisten in ihrer Kino-Zeitreise dann aber am geschichtsträchtigen Abend angekommen sind, an dem während des Zweiten Weltkriegs die Atombombe über Hiroshima abgeworfen wurde, kehrt auch endlich zumindest ein wenig Kohärenz in den Plot ein. Selbst wenn man Anfang Schwierigkeiten gehabt haben sollte, in Obayashis überwältigendes Abschlusswerk hineinzufinden, dürfte man spätestens ab diesem Punkt den Anschluss erreicht haben. Auf kreative wie auch - in bester Obayashi-Manier – absurd-komische Art und Weise lässt der Regie-Altmeister menschliche Gräueltaten aus den dunkelsten Kapiteln des Landes für die große Leinwand im wahrsten Sinne des Wortes wiederaufleben. Obayashi verwendet das Kino als zeitloses Mittel um Vergangenes unvergessen zu lassen und so - auf angenehm ehrlichem Weg – ans Publikum zu plädieren, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Der Film kann dementsprechend als großes filmisches Statement gegen Krieg und menschliche Verwüstung gelesen werden, das trotz der tragischen Untertöne mit einer unerwartet hoffnungsvollen Note endet.

    „Labyrinth of Cinema“ ist – wie der Titel schon andeutet – in der Tat ein knifflig zu lösendes Labyrinth eines Films, das weite Teile des Publikums wohl mit großem Fragezeichen im Gesicht zurücklassen wird. Wer sich aber auf dreistündigen japanischen Surrealismus mit einer großen Menge aufrichtiger Emotion einlassen kann, wird reichlich belohnt werden. Nobuhiko Obayashi hat hier auf den letzten Metern seines Lebens noch ein großes, lebensbejahendes und mit uneingeschränktem Einfallsreichtum ausgestattetes Alterswerk geschaffen, in dem pazifistische Töne auf eine zu jeder Sekunde spürbare Liebe für das Medium Film treffen. Der Altmeister verneigt sich vor der unsterblichen Kraft des Kinos und präsentiert dieses als Institution, in dem Wirklichkeit und Fiktion stets nahtlos ineinander übergehen.

    Dementsprechend verneigen auch wir uns und sagen:

    Danke für diese wundervolle Phantasmagorie, Herr Obayashi!
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    (Christian Pogatetz)
    26.09.2020
    09:11 Uhr